Der Traum ist aus

v. Marcus Hammerschmitt

- Originalfassung des Artikels "Offenes Ende", erschienen in brand eins 4/2005 -

Warum die Open-Source-Revolution zu Ende ist, noch bevor sie im Sinne der Erfinder angefangen hat

Open Source ist überall, scheint es. Nicht nur in der IT-Welt, sondern auch in anderen Wirtschaftszweigen und Lebenszusammenhängen begegnet man dem Schlagwort mittlerweile so häufig, als bezeichne es eine Selbstverständlichkeit. Open Source beweist für viele die Überlegenheit eines neuen Produktionsmittels: des Netzwerks. Viele verwechseln allerdings Produkt mit Idee - und nicht selten Ideologie.


Die Idee

Wörter des Jahres, Unwörter des Jahres. Eines hat immer gefehlt - das Buzzword mindestens der letzten fünf Jahre: „Open Source“. Der Begriff hat sich als Marketing-Geniestreich erwiesen. "Open Source" ist schwammig genug für Vieles und klingt immer gut. Wer möchte nicht aus einer offenen Quelle trinken? Tatsächlich ist Open Source Software erfolgreich. Die Konsequenzen ihrer breiten Anwendung sind der Open Source Community aber noch längst nicht klar.

Aber was heißt eigentlich „Open Source“? Selbst die Gründerväter der jungen Bewegung sind sich nicht einig. So sagt Richard Stallman, Autor der General Public License GPL und Gründer der Free Software Foundation (FSF), dass er keine "Open Source-" sondern "Free Software" im Sinn hat - "frei nicht im Sinne von Freibier, sondern von freier Rede". Bis heute ist die GPL die wichtigste Geschäftsgrundlage der Szene - unter anderem deswegen, weil Linux nach ihr lizensiert ist. Eric S. Raymond ist absolut kein Gegner der GPL, aber er führte 1998 den Begriff "Open Source" bewusst in sein Manifest "Die Kathedrale und der Basar" ein: Die ansprechendere Bezeichnung sollte der IT-Wirtschaft die Benutzung von "freier" Software schmackhafter machen. Seine Open-Source-Initiative (OSI) verfolgt die Strategie der Umetikettierung mit großem Nachdruck - von "Free Software" spricht nur noch eine Minderheit. Neben der GPL Stallmanns gibt es Dutzende weitere Software-Lizenzen, die sich in der einen oder anderen Weise als frei begreifen lassen. Auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, macht die ernsthafte Open-Source-Szene folgendes: Sie bietet quelloffene Software an, und liefert die Spielregeln zur Weiterverbreitung gleich mit. Quelloffen heißt, dass mit den maschinenlesbaren Programmen ("binaries") immer die von Menschen lesbaren Quelltexte resp. Quellcodes ("sources") der Programme mitgeliefert werden. Das macht die Kontrolle und Anpassung des Codes durch Programmierer, die ihn nicht ursprünglich geschrieben haben, überhaupt erst möglich. Durch die gleichfalls immer mitausgelieferten freien Lizenzen (wie die GPL) wird ein alternatives Recht geschaffen, das teils mit der herrschenden Rechtsordnung kompatibel ist, aber auch teils in der Ausführung mit ihr konfligiert. Man könnte das mit Ingenieuren vergleichen, die ihre technologischen Tricks nicht wie Geschäftsgeheimnisse behandeln, sondern der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen und bestimmten wollen, dass diese Tricks auch Allgemeingut bleiben - eine Art Bauplan-Altruismus.

Aber die Helden der Bewegung beharren darauf, dass Kostenlosigkeit nicht ihr Thema ist. Man kann die GPL ruhig ernst nehmen, wenn sie immer wieder darauf hinweist, dass sie die kostenpflichtige Verteilung, ja selbst den Verkauf von Open-Source-Software zu reinen Phantasiepreisen absolut deckt: So lange die Quelltexte mit den computeranwendbaren Programmen mitgeliefert und die Käufer auf die Zustimmung zur GPL verpflichtet werden, ist das kein Problem für Richard Stallman und seine FSF, und Eric S. Raymond sowie die OSI würden da in jedem Fall zustimmen. Dieser Aspekt der GPL und ähnlicher Lizenzen hat dafür gesorgt, dass es so etwas wie eine Open-Source-Wirtschaft überhaupt gibt. Schließlich machen Firmen wie SUSE (seit 2003 in Besitz des Softwarekonzerns Novell) und Red Hat nichts anderes, als ein unter GPL stehendes Betriebssystem (Linux) unter ihrer Flagge zu modifizeren und kostenpflichtig zu verteilen - nach der GPL ein absolut zulässiger, ja erwünschter Vorgang.

Weil Open-Source-Programmierer bestimmte Eigentums- und Verwertungsrechte der Öffentlichkeit überlassen, und ihre Nutznießer dazu verpflichten wollen, das Gleiche zu tun, ist die ganze Szene schon mehr als einmal mit dem Vorwurf konfrontiert worden, gelebter Kommunismus zu sein. Jüngst stellte Bill Gates in einem Interview mit dem Internet-Dienst c|net die Behauptung auf, all diejenigen, die an den hergebrachten Copyright-Regeln rütteln wollten, seien Kommunisten. Die Open-Source-Community verstand genau, dass damit nicht nur Raubkopierer und die Kritiker der Copyrightpraxis von Medienkonzernen wie Disney gemeint waren. Nun ist es kein Wunder, dass Gates als Patriarch eines Fast-Monopolisten wie Microsoft den Jungtürken von der Open-Source-Community mit der Kommunismuskeule winkt, bedrohen sie doch seine Marktanteile, indem sie eine kostengünstige Alternative zu dem anbieten, was er teuer verkaufen will. Interessant ist nur, wie er die grundsätzliche Überlegenheit seiner Vorstellungen von Copyright und geistigem Eigentum begründen will: Nur der Eigentumsanreiz und die Aussicht, Eigentum möglichst gewinnbringend zu verwerten, motiviere den Einzelnen zur Leistung, so seine These.

Aber genau in diesem Punkt wird Gates von den Leistungen der Open-Source-Community widerlegt, was auch der Ökonom und Mathematiker Michael Heinrich anerkennt, einer der klügsten Erneuerer des Marxismus hierzulande. Heinrich analysiert das Open-Source-Phänomen in seinem Text "Freie Software und Kapitalismus" (2002, mit Sabine Nuss) als eine "Anomalie"; es sei in der Tat eines des besten Belege gegen die dogmatischen Behauptungen von der unerläßlichen Stimulation durch den Eigentumsanreiz. Gleichwohl habe es mit Kommunismus wenig zu tun. Die Benutzer der Software verhielten sich zu ihr wie zu proprietärer Software auch, nur ein verschwindend geringer Bruchteil könne sich die Möglichkeiten der Veränderung vorgefundener Open-Source-Software zunutze machen, alle anderen hätten dazu weder die Kenntnisse noch überhaupt die Zeit. Noch wichtiger: Durch Verfügbarmachung extrem kostengünstiger Arbeitsleistungen und Produkte ermögliche die Open-Source-Szene der herkömmlichen Wirtschaftsweise Kostenersparnisse in Produktion und Verwaltung von ungeahntem Ausmaß, und das bei einer strategischen Ressource, die buchstäblich alle Wirtschaftszweige betrifft. Laut Heinrich ist Open-Source-Software zum Kapitalismus vollkompatibel.


Nutzwert

Bei IBM würde man ihm sicher Recht geben. Dort hat man frühzeitig beschlossen, Linux zu umarmen. Dabei geht es nicht so sehr darum, die eigenen Produkte für den Endverbraucher (also Laptops, Desktops und Handhelds ) ab Werk mit Linux auszuliefern, oder ein "firmeneigenes" Linux zu kreieren und auf den Markt zu werfen. Vielmehr ist die Strategie zunächst darauf ausgerichtet, um Linux herum ein engmaschiges Angebot an Serviceleistungen (inkl. passender Hardware) zu schaffen, das von anderen Firmen genutzt werden soll. IBM ist dabei, massive Beratungs- und Logistikkompetenz in Zusammenhang mit Linux aufzubauen, um sich als Topvermittler für das kostenarme Open-Source-"Softwaregold" zu positionieren. Diese Anstrengung wird von einer massiven Marketingkampagne mit ehrgeizigem Zuschnitt begleitet. Während emotionale Fernsehspots Linux als schnell wachsendes, extrem lernfähiges Kind darstellen, das von der Welt adoptiert worden ist, um zu einem allseits handlungs- und anpassungsfähigen Erwachsenen erzogen zu werden, sprechen die Strategiepapiere Klartext: IBM bewirbt Linux aufgrund seiner Flexibilität und "Offenheit" als Wunderwaffe bei der Renovierung, Integration und Inwertsetzung heterogener Hard- und Softwarelandschaften, wie sie in vielen Firmen historisch gewachsen sind und gemanagt werden müssen. IBM ist in der glücklichen Lage, ein kostenarmes Betriebssystem mit der firmeneigenen Hardware und den firmeneigenen Beratungsleistungen zum Zusammenspiel von beidem anbieten zu können - drei Trümpfe in einer Hand. Man präsentiert sich als Helfer in der Not für alle Arten von Firmen, die in einer krisenhaften Gesamtsituation auch bei ihrer EDV jedes nur denkbare Sparpotenzial ausreizen und gleichzeitig schon aus Konkurrenzgründen nicht auf die Vorteile einer IT-Umgebung nach dem letzten Stand der Technik verzichten wollen.

Das Ganze ist längst kein Zuschuss- oder Risikogeschäft mehr. Auf dreißig Prozent seiner ausgelieferten kleineren Server läuft laut IBM bereits Linux, ein Viertel der mittelständischen Unternehmen setzt bereits Linux als Serversystem ein. Das Marktforschungsinstitut IDC errechnete schon vor Jahren für den Zeitraum von 2002 - 2007 ein jährliches Wachstum von rund 28,5 %, und die Realität scheint sich im Großen und Ganzen an diese optimistischen Voraussagen zu halten. Entsprechend hat man bei IBM Erfolgsstories und Referenzen vorweisen. In fast euphorischen Testimonials und Artikeln wird von Systemadministratoren und ihren Erfahrungen bei der Umstellung ihrer Firmennetzwerke auf Linux erzählt. "Schneller, besser, einfacher, leistungsfähiger" lautet der Tenor.

Zum Beispiel Andreas Schlager, IT-Mitarbeiter bei der M. Kaindl Holzindustrie KG in Salzburg-Wals. Von brand eins zur Linux-Nutzung in seinem Unternehmen befragt, sagt er:

„Den großen Vorteil sehe ich in der frei zur Verfügung stehenden Software, in den vielfältigen Anpassungsmöglichkeiten und in der Stabilität und Sicherheit einer Linux-Installation.“

Hohes Lob von jemand, der Tag für Tag ein Firmennetzwerk am Laufen halten muss. Sparpotenziale ergeben sich für ihn hauptsächlich aus dem Wegfall der Anschaffungskosten für die Server-Software und Client-Lizenzen. Hinzu kommt für ihn als Sysadmin:

„Man kann sich schnell eine Testmaschine aufsetzen und neue Software legal ausprobieren, ohne sich vorher irgendwelche Demo-Lizenzen beschaffen zu müssen, nur um sich dann anschließend mit den täglichen Anrufen von Vertetern der Software-Firmen herumschlagen zu müssen.“

Er gibt allerdings zu bedenken, dass der Erfolg einer Migration von Linux auch von dem Know-How abhängig ist, das die Firma selbst im Umgang mit Linux entwickelt.

„Windows kennt (fast) jeder (zumindest von der Client-Seite her), aber um ein Linux-System ordentlich administrieren zu können, ist doch einiges an Wissen erforderlich, das man sich erst aneignen muss.“

Den notwendigen Aufwand für Installation und Wartung sieht er auf etwa demselben Niveau wie bei kommerzieller Software. Die Marktchancen für Open-Source-Software im Firmeneinsatz sind seiner Meinung nach ausgezeichnet, er selbst will die Linux-Nutzung in seiner Firma in Zukunft noch vorantreiben.

„Wir planen, unsere bestehenden Windows NT4-Fileserver mit Linux und SAMBA abzulösen, wobei dies für eine Niederlassung kurz vor der Installation steht.“

SAMBA könnte man als eine Brücke zwischen Linux/UNIX und Windows verstehen, sie macht die beiden Software-Welten „interoperabel“, wie es heißt.

Als SUSE 2003 nach einer verbissenen Auktion für 210 Millionen Dollar an Novell verkauft wurde, war das Staunen groß. Obwohl Alan Nugent, der seinerzeitige Chief Technology Officer (CTO) von Novell (mittlerweile hat er die Firma verlassen) im September 2004 betonte, die Entwicklerszene habe den Verkauf fraglos mitgetragen, sind doch bis heute Befürchtungen nicht verstummt, Novell könne Linux mit Softwarebestandteilen „impfen“, die nicht unter Open-Source-Lizenzen stehen, und es sich so Stück für Stück aneignen - dies ein Verdacht, der in analoger Weise SUSE gegenüber schon vorher geäußert worden war. Auch wurden Stimmen laut, die im Verkauf von SUSE eine Verscherbelung „europäischen“ Tafelsilbers an „die Amerikaner“ sehen wollten - ein ziemlich irrationaler Einwurf, wenn man bedenkt, dass das europäische Linux auf dem amerikanischen UNIX beruht. Fast allen, die den Deal kommentierten, war klar, dass er sich letztendlich gegen die marktbeherrschende Position von Microsoft richtete, und zwar zunächst im Serverbereich.

Stellungskriege hin, Verdächtigungen her, für Jürgen Geck, den CTO bei SUSE LINUX, steht sowieso fest:

„Wenn man nicht nur ein Stück Technik, sondern ein Produkt samt Planbarkeit und Support haben möchte und vielleicht auch ein Unternehmen damit betreiben möchte, dann haben wir die beste Lösung. Unser Linux funktioniert auf dem heimischen PC, auf den Rechnern im Rechenzentrum oder auf der Registrierkasse, auf dem Behördenschreibtisch genauso wie auf einem Mainframe oder meinem Laptop.“

Der Verkauf von SUSE an Novell habe der Firma nur genützt, man befruchte sich gegenseitig. Auch die Verzahnung mit IBM sei mehr als sinnvoll, der Hardware-Gigant garantiere in Zusammenarbeit Novell/SUSE, dass Software und Hardware in idealer Weise miteinander harmonierten. Geck:

„Ich glaube, das kann man als strategische Partnerschaft bezeichnen.“

Für das Schlüsselprodukt SLES (SUSE LINUX Enterprise Server) ist diese strategische Partnerschaft natürlich besonders wichtig.

„IBM übernimmt uns gegenüber die Verantwortung für das Funktionieren aller Teile von Linux, die man braucht, um SLES (SUSE LINUX Enterprise Server) auf aller Hardware von IBM zu betreiben - vom Mainframe bis zum Kassensystem. Novell sorgt dafür, dass das mit genau dem gleichen System möglich ist, das wir z.B. auch an Kunden von HP, Oracle oder SAP liefern.“

IBM und Novell böten zudem weltweiten Service für SUSE LINUX, ein besseres Team könne man sich kaum vorstellen. Ein Firmenrepräsentant, der mit jeder Faser an seinen Produkten hängt, muss so etwas sagen, aber die Übereinstimmung mit Rückmeldungen aus der Praxis ist zu hoch, um das alles für reines Marketing-Tamtam zu halten.

Ein wenig seltsam mutet an, dass Geck IBM umstandslos zur „Open-Source-Gemeinschaft“ rechnet - gerade so, als habe „Big Blue“ von Anfang an die Linux-Entwicklung gefördert. Ein wenig Opportunismus wird beim Sprung auf den fahrenden Zug schon auch mit im Spiel gewesen sein. So ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, IBM wolle zwei wichtige Fehlentwicklungen der Vergangenheit im Zusammenhang mit Microsoft wieder gut machen: Einmal die ungeahnten Konsequenzen durch den Einsatz von MS-DOS als Standardbetriebssystem auf den PCs der Firma Anfang der Achtziger, zum anderen die bis heute von vielen für surreal gehaltene Entscheidung, das hauseigene Betriebssystem OS/2 nach Startschwierigkeiten langsam sterben zu lassen, wodurch Windows der endgültige Triumph auf dem Betriebssystemmarkt für Endverbraucher wesentlich erleichtert wurde.

Die Mutation, die IBM in den Augen der Open-Source-Fans nach der Umarmung von Linux durchgemacht hat, entbehrt nicht einer gewissen Komik: Aus dem früheren Feind aller freien Hacker, dem IT-Leviathan, hat sich IBM in den Hort alles Guten verwandelt; aus dem großen Bruder, der überwacht und straft, ist der große Bruder geworden, der rächt und schützt.

Obwohl die Strategien von IBM, Novell/SUSE und die Erfahrungen der Geschäftskunden ein sehr gutes Beispiel dafür sind, wie die Wirtschaft mit dem "schwierigen Geschenk des Himmels" umgeht, macht es natürlich keinen Sinn, die Marktentwicklung von Open-Source-Software allein auf IBM und seine Geschäftskunden zu verengen. Hewlett-Packard zum Beispiel versucht es unter der Überschrift „Linux for the Real World“ IBM gleich zu tun. Da man mit der eigenen Armada an Servertechnologie und der Erfahrung mit Server-Software ähnlich aufgestellt ist wie IBM, sind die Aussichten auch ähnlich gut. Ein Siebtel der 1,5 Millionen verkauften HP-Server pro Jahr läuft derzeit nach Firmenangaben unter Linux. Um die Open-Source-Giganten herum ist eine ganze Galaxie von kleinen und mittelständischen Unternehmen entstanden, die sich durch Dienstleistungen von den oben erwähnten Wachstumsraten eine Scheibe abschneiden wollen. Firmen wie die ABAS-Software AG, die CSB-System AG, die Parity Software GmbH und die Univention GmbH bieten alle maßgeschneiderte Lösungen für nahezu jede denkbare Problemlage an. Beim Branchendienst Isis Linux Online listet man derzeit über 2000 verschiedene Software-Lösungen und über 1800 Firmen. Interessanterweise unterscheidet sich das alles gar nicht grundlegend von den Prozessen, die man bei herkömmlicher Software seit Jahrzehnten beobachten konnte. Die Wirtschaft und die öffentlichen Verwaltungen von der Bundes- bis zur Kommunenebene haben eine neue technische Errungenschaft als „Anti-Kosten-Waffe“ voll angenommen - nicht mehr und nicht weniger. Für IT-Unternehmen, die sich auf Open-Source-Dienstleistungen spezialisieren, ist es eine doppelte Anti-Kosten-Waffe. Sie können nicht nur die Kosten ihrer internen Verwaltung senken. Zusätzlich ist der Rohstoff (der Open-Source-Code), den sie einer Veredelungsleistung durch Beratung, Anpassung und logistisches Know How unterziehen, ungleich viel günstiger zu beziehen als bei herkömmlicher Software, und diesen Preisvorteil können sie je nach Konkurrenzsituation voll oder teilweise an ihre Kunden weitergeben. Rohdiamanten von hoher Qualität liegen buchstäblich auf der Straße, und wer sie schleifen kann, kann derzeit gut verdienen.


Illusionen

Die Open-Source-Szene reagiert auf diese Entwicklungen mit einem gespaltenen Bewusstein. Einerseits ist man voll in den entstehenden und wachsenden professionellen Arbeitsmarkt um die eigenen Produkte herum integriert, ohne ihm in irgendeiner Weise Bedingungen vorgeben zu können, andererseits pflegt man „radikale“ Illusionen. Der bekannte Open-Source-Guru Eben Moglen zum Beispiel behauptet noch heute, das ungeheuer Neue und Wunderbare an der Open-Source-Software sei ihre Allverfügbarkeit. Da ihre Grenzkosten gleich Null seien, könne sie jeder besitzen, anwenden und verändern; der Entfaltung dieses vollkommen freien Produktionsmittels seien daher zum ersten Mal in der Geschichte der Wirtschaft keinerlei Grenzen gesetzt. Aber die Möglichkeit, Open-Source-Software zu besitzen, zu benutzen und zum eigenen Nutzen zu modifizieren, ist an bestimmte Voraussetzungen und Ressourcen gebunden, die eben nicht allverfügbar sind. Hätte Moglen Recht, dann wäre die vor unseren Augen entstehende Open-Source-Wirtschaft weder notwendig, noch würde sie je einen Kreuzer Umsatz machen können - es gäbe die Knappheit überhaupt nicht, die der funktionierende Markt für Open-Source-Software und die zugehörigen Dienstleistungen voraussetzt. Und es ist eben kein Zufall, dass sehr große Firmen wie IBM und HP sich die Vorteile von Open-Source-Software mit dem größten Nachdruck zunutze machen können, weil sie über enorme Ressourcen verfügen. Das La-La-Land der Open-Source-Chancengleichheit, von dem Leute wie Moglen phantasieren, existiert nicht.

Und die Hirngespinste von der Open-Source-Demokratie werden ja bereits in den Gründungsdokumenten der Bewegung selbst widerlegt. Wenn man sich Tonfall und Sprache von Raymonds "Die Kathedrale und der Basar" einmal genauer anschaut, muss man zu dem Schluss kommen, dass die Demokratie des Basars die Demokratie einer Elite ist. Der Text ist durchsetzt von astreinem Nerdspeak, undurchdringlich für die Vielen, die angeblich durch Open-Source-Software mit völlig neuen Möglichkeiten der Autonomie beglückt werden. Ein Beispiel:

„Warum eigentlich, so meine selbstgestellte Frage, sollte ich mich mit der ganzen Komplexität der Konfiguration eines Mail Delivery Agent plagen oder lock-and-append für eine Mailbox aufbauen, wenn doch Port 25 fast garantiert auf jeder Plattform existiert, die TCP/IP unterstützt? Speziell wenn dies bedeutete, daß die abgeholte Mail garantiert wie gewöhnliche sender-initiated SMTP-Mail aussehen würde - was es eigentlich ist, was wir wirklich wollen.“

Eine bestimmte technologische Arroganz lässt Raymond erkennen, wenn er die grundsätzliche Überlegenheit des Open-Source-Ansatzes gegenüber herkömmlichen Entwicklungsmodellen preist. Seine Behauptung, dass kein Fehler der Kontrolle durch so viele demokratisch kooperierende Programmierer entgehen könne, wird nicht nur durch die Binsenweisheit ausbalanciert, dass viele Köche den Brei auch verderben können. Es ist eine wohlbekannte sozialpsychologische Tatsache, dass große Kollektive Fehlentwicklungen hartnäckig übersehen können, wenn die einzelnen Mitglieder aus den verschiedensten Gründen nicht sehen wollen. Dass Open-Source-Software vor solchen Effekten automatisch geschützt sein soll, ist keineswegs garantiert. Es kann durchaus sein, dass Open-Source-Software im Durchschnitt weniger Fehler aufweist als von geschlossenen Spezialistenteams entwickelte. Der Nimbus von geprüfter Fehlerfreiheit, der ihr bis vor kurzem anhaftete, ist allerdings dahin - unter anderem durch die anhaltende Diskussion über nicht-triviale Sicherheitslücken im Linux-Kernel.

Richtig lächerlich wird es, wenn linke Open-Source-Anhänger von einer umstandslosen Übertragung der Open-Source-Konzepte auf die Welt außerhalb der Softwareentwicklung träumen. In diesem Zusammenhang ist immer wieder von "Open Cola" und "Free Cars" die Rede. Es ist wohl kaum ein Problem, in der Küche irgend eine Zuckerbrause zusammenzumischen und sie "Cola" zu nennen - sie in großem Maßstab zu produzieren und zu vertreiben, schon. Dasselbe gilt noch deutlicher für Open-Source-Autos. Hier wirken die Trägheit der Materie und die enormen Anfangsinvestitionen, die zu ihrer Bewegung erforderlich sind, als begrenzender Faktor - was Software-Spezialisten anscheinend auf Dauer verborgen bleiben kann.

Ein interessanter Aspekt der alternativen Verrechtlichung durch die GPL und ähnliche Lizenzen ist der Glaube an die Zauberkraft von Gesetzen. Große wie kleine Unternehmen brechen andauernd Gesetze. Warum sollte das ausgerechnet bei Open-Source-Lizenzen anders sein? Die rechtliche Durchsetzungsfähigkeit der Open-Source-Lizenzen mag aufgrund ihrer Kompatibilität mit verschiedenen Aspekten des weltweiten Urheberrechts grundsätzlich gegeben sein, aber sie ist in der Praxis äußerst gering. Schon jetzt stehen sehr wenigen erfolgreichen Verteidigungen der GPL vor Gericht massenhafte Brüche der Lizenz durch kommerzielle Verwerter gegenüber. So hat zum Beispiel der Programmierer Harald Welte, Autor der Linux-Firewall Netfilter gegen die Firma Sitecom das weltweit erste Gerichtsurteil erwirkt, das die Wirksamkeit der GPL unterstützt (Landgericht München I, 19.5.2004, AZ 21 O 6123/04). Aber auf der letzten CeBIT konnte er 13 weiteren Unternehmen, die seiner Ansicht nach die GPL im Zusammenhang mit seinem Programm verletzen, nichts als „blaue Briefe“ übergeben. Auf lange Sicht wird sich wahrscheinlich eine Situation wie im traditionellen Print- und Medienbereich ergeben, wo kleine Erfolge bei der Durchsetzung von Autorenrechten in starkem Kontrast zu einer schon fast branchenüblich zu nennenden Enteignungspraxis durch die Rechteverwerter stehen.

Darüberhinaus erzeugt generell die Vermengung von Open-Source-Software mit herkömmlichen Programmen in der Praxis rechtliche Probleme von großer Komplexität; diese Probleme werden nicht nur vielen spezialisierten High-Tech-Anwälten in Zukunft ein sicheres Auskommen bieten, sondern sind auch ein Haupteinfallstor für die Angriffe auf die Open-Source-Szene durch Parteien, die proprietären Code in freien Programmen verarbeitet sehen und ihre Eigentumsansprüche an diesem Code juristisch geltend machen wollen. Die Firma SCO zum Beispiel behauptet seit geraumer Zeit, Rechte an dem Unix-Code zu halten, der Linux zugrunde liegt, und liefert sich deswegen einen juristischen Grabenkrieg mit allen möglichen Gegnern.

Bei Betrachtung der Legenden, die von der Open-Source-Szene trotz der Ernüchterung im Alltag weiterhin verbreitet werden, drängt sich der Verdacht auf, dass hier eine neue Schicht von Wissensarbeitern ihren Arbeitsstil um jeden Preis als verwirklichte Utopie wahrnehmen will, während sie an einer Ideologie schnitzt, die den Geschmack von Freiheit und Abenteuer in letztendlich doch recht normale industrielle Innovationsprozesse hinüberrettet. Das folgt auch einer biographischen Entwicklungslinie. Als Universitätsstudent war man nicht von den Erträgen der eigenen Arbeit abhängig - jedenfalls nicht in existenzieller Weise. Der Open-Source-Bauplan-Altruismus, der scheinbar den Verwertungsinteressen des Kapitals zuwiderlief, tat den eigenen Interessen nicht weh und vermittelte das wohltuende Gefühl, Teil einer weltweiten Bewegung gegen das technologische Böse zu sein. Als fest oder prekär Angestellter in der neuen Open-Source-Industrie hält man an diesem Lebensgefühl im ernüchternden Alltag eines mehr schlecht als recht bezahlten Lohnprogrammierers fest. Der Industrie kann beides recht sein, sie hat Bedarf für die Leistungen der rebellischen Studenten und die der hoch motivierten Angetellten, die sich immer noch für Rebellen halten. Derweil ist längst bewiesen, dass Open-Source-Software eine ganz normale Ware ist - wenige sehr große und Tausende kleinere Firmen beweisen es täglich.


Worauf läuft es hinaus?


Die OS-Szene hat sich als ausgelagertes Voluntariat der IT-Wirtschaft erwiesen. Ökonomisch geht es hier um eine Abschöpfung. Das Kunsthandwerk, das draußen auf dem Basar in viel Handarbeit und für wenig Geld erzeugt wird, steht später auf dem Altar der Kathedrale. Das ist für die überwiegende Anzahl der Open-Source-Aktiven völlig in Ordnung, weil sie nie etwas anderes wollten, aber es hat mit den Freiheitsmanifesten der Bewegung oder gar mit Ideen von Systemveränderung durch "freie" Software nichts zu tun. Die Revoluton wurde abgesagt, noch bevor sie begonnen hat. Andere subversive Szenarien wie "Guerillakrieg" oder "Unterwanderung" kamen gar nicht auf den Spielplan. Nichts ist unmöglich, aber viel wahrscheinlicher als die Verbesserung der Welt durch Open-Source-Software ist folgendes:

- Die IT-Welt und mit ihr die gesamte ökonomische Sphäre werden bis zu einem gewissen Grad von verschiedenen Open-Source-Konzepten durchdrungen werden. Der Durchdringungsgrad wird definiert sein durch die Marktmacht der Alteingesessenen, Grenzen der Praktikabilität im alltäglichen Einsatz, und Häufigkeit sowie Hartnäckigkeit von juristischen Problemen, die an der Reibungsfläche zwischen "offenen" und "geschlossenen" Copyrightkonzepten entstehen.

- Software wird billiger, und zwar hauptsächlich aufgrund der Selbstausbeutung von Freiwilligen. Die Arbeit von Programmierern wird weiter informalisiert und prekarisiert werden. Sogar eine Taschengeldkultur ist denkbar - siehe die angestrebte Verschlankung der Open-Source-Desktop-Umgebung GNOME. GNOME könnte man als eine Art Windows für Linux- und Unix-Systeme ansehen, es ist eine graphische Schnittstelle, die den Umgang mit den dahinter stehenden Betriebssystemen vereinfacht. Es ist leicht einzusehen, wie GNOME Windows am Markt unter Druck setzen könnte, und die hinter GNOME stehenden Sponsoren (darunter IBM, Sun und HP) sind dazu übergegangen, junge Entwickler mit sogenannten „Bounties“ für die Lösung von Teilproblemen bei der Entwicklung von GNOME zu belohnen. Die Summen, von denen hier die Rede ist? 100 - 2000 US$.

- Microsoft wird an Einfluss und Rentabilität verlieren, weil die Firma durch steigende Marktanteile von Software, die ihren Ursprung in der Open-Source-Szene hat, in eine echte Konkurrenzsituation getrieben wird. Mit einer existenziellen Bedrohung Microsofts ist aufgrund der "Massenträgheit" des Endverbrauchermarkts kaum zu rechnen. Dafür spricht auch die anhaltend zögerliche Akzeptanz von Linux bei Privatkunden und Endverbrauchern - man ist nun einmal an Windows gewöhnt, und scheut die privaten Kosten der Umorientierung, die immer noch massiv sind, im Gegensatz zu dem, was Open-Source-Szene und -Wirtschaft behaupten. Dennoch: Allein das Vorhandensein einer Alternative wird Microsoft zum Handeln zwingen.

- In der Open-Source-Industrie wird es zur Herausbildung eines engen Oligopols kommen, auf kurze und mittlere Sicht werden dabei wahrscheinlich Firmen wie Novell/SUSE und Red Hat eine Rolle spielen. Je länger diese Firmen als professionelle Vermittler zwischen Betriebssystem und Endkunde wirken, je mehr werden sie "ihr" Linux als ihr Eigentum ansehen.

- Die "GPL-Gesellschaft", also eine Ausdehnung der Open-Source-Prinzipien auf alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft, wird nicht stattfinden, weil die GPL-Prinzipien nur bei der Herstellung und Verbreitung von Informationswaren funktionieren (und selbst dort nicht so, wie von ihren Erfindern beabsichtigt). Energie und Materie lassen sich zwar mit Hilfe von Programmcode manipulieren, aber sie lassen sich nun einmal nicht in Programmcode auflösen. Genau so wie gesellschaftliche Machtverhältnisse durch Programmcode neu gemischt, aber nicht aufgelöst werden können. Software ermöglicht viel, aber sie macht nicht allmächtig.

- Inseln der Freiheit werden entstehen und vergehen. Bei diesem Prozess werden zwei Kräfte eine Rolle spielen: die Kreativität und Experimentierfreude junger Leute als Rock’n Roll-Faktor, und der Wille der Konzerne, über den Verbrauch von Risikokapital an bisher unerschlossene Ressourcen zu kommen. Über Ausdehnung, Dichtigkeit und Fruchtbarkeit des Dschungels auf diesen Inseln entscheidet die Frage, wie gut die beiden Kräfte zueinander finden.

Die anarchische Phase des Goldrauschs vorbei. Die Prospektoren und Geologen sind da, die Claims sind abgesteckt und werden von den erfolgreichsten Schürfgesellschaften zu immer größeren Hoheitsgebieten vereinigt. In den Gerichtssälen der wachsenden Frontierstädte stehen Prozesse um Eigentumsansprüche auf der Tagesordnung. Welcome to Sim City made real by Open-Source-Software.

© Marcus Hammerschmitt, 2005