Der Weg zu I. war nicht leicht. Sie wohnte im Neubaugebiet meines zersiedelten Dorfs, fast an der Grenze zum Nachbardorf, und das Neubaugebiet lag auf Hügeln, die das Dorf umgaben, und der Weg dorthin zog sich am Rathaus, an meiner alten Grundschule, an der neugebauten Kirche des Neubaugebiets vorbei, hügelanwärts, gute zwanzig Minuten lang. Ein schlecht gepflegter Braschenweg, der eine Abkürzung gegenüber der normalen Straße darstellte, war sogar unbefahrbar. Daran änderte auch mein 12-Gang Rennrad aus Aluminium nichts, im Gegenteil, bei dem Braschenweg waren die dünnen Reifen ein glatter Nachteil. Regelmäßig kam ich atemlos und verschwitzt bei I. an, und sie, die immer so kultiviert und höflich war, nahm es gelassen. I. war älter als ich, wie jede Frau, die ich bisher geliebt habe, sie war sechzehn, sie war fast schon erwachsen. Wir hatten nichts miteinander, unsere Liebe war sozusagen völlig platonisch, aber selbst Plato hätte nicht viel darauf gegeben. Nur dass wir uns liebten, sonst nichts. I. hatte fast ausschließlich meinetwegen ihren vorherigen Freund, einen BGS-ler, der wirklich schon erwachsen gewesen war, aufgegeben, das hielt ich lange für ein Zeichen. Wir gingen spazieren, wir lasen Herrmann Hesse, wir tangierten leichthin politische Themen, wir waren ein wenig unglücklich und ratlos über die Dummheiten unserer Eltern und hörten viel romantische Musik. Wenn ich die Lieder heute im Radio höre, sind sie mir unangenehm, nicht wegen I., sondern weil sie einfach Scheiße waren, und ich denke, dass ich das hätte merken können. Wir tranken auch Tee. Der Tee in meinem Küchenschrank geht auf I. zurück. Als wir einmal auf dem Bett in meinem Jugendzimmer saßen, fragte ich sie, ob ich sie küssen dürfe, sie wollte das aber nicht. Ich glaube, wir sind nicht ganz bis zum Händchenhalten vorgedrungen. Ich war sehr stolz auf I., denn sie war hübsch, und als der Jüngste in meiner Klasse hatte ich lange damit zu kämpfen gehabt, dass ich keine Freundin hatte. Mit I. wurde das anders. Jetzt rückte ich ein Stück in der Rangordnung auf, und hinter mir kam jetzt noch N., der Kleinwüchsige. N. ging dann später sogar manchmal mit mir zum Bahnhof nach der Schule, ich mochte noch so ein Flasche auf die hundert Meter sein. Manchmal traf ich mich in der großen Pause mit I. an der Bushaltestelle vor dem Mädchengymnasium, hundert Meter von meiner Schule entfernt. Wir standen dann etwas ratlos in der Hitze zum Beispiel, an einer grauen Mauer, die mit einem langsam verblassenden Spruch gegen Massenentlassungen in der Stahlindustrie verziert war. Wir erzählten uns die Ereignisse der Zwischenzeit und machten das nächste Treffen zum Spazierengehn und Teetrinken aus, ich war damit teilweise glücklich. Nur ein oder zweimal, ganz am Anfang, schwänzten wir die Schule und sprachen Herrmann Hesse in einer Kneipe namens "Mandy's" durch. Ich wusste ja auch noch nicht, was die Liebe kostet, und deswegen kam ich mir mit einigen romantischen Gefühlen auch noch reich vor. Nicht, daß wir es nicht ernst meinten. Ich habe I. sehr geliebt, und in gewisser Hinsicht tue ich es noch. Sie war sehr kultiviert, weiblich, höflich und überhaupt ein Mädchen, auf das jeder Junge hätte stolz sein können. Sie ist heute eine beeindruckende Frau. Wir gingen eben nur nicht weiter, als bis an die Grenzen des Dorfs. Meine Eltern mochten sie nicht, und ihre Eltern mochten mich nicht, jedenfalls nicht allzusehr, das hatte auch noch mit der vermasselten guten Partie mit dem BGS-ler zu tun, der im übrigen auch recht nett und freundlich gewesen war. Als I. mich nach einem Jahr durch einen Telefonanlagenbauer ersetzte, der wiederum wirklich erwachsen war und auch schon Auto fuhr, wollte ich in der Nacht sterben, indem ich die Luft anhielt und bis zehn zählte. Auch dies ein Modellfall. I. lebt heute mit einem Musiker zusammen und hat zwei Kinder, ein Mädchen namens Anna und einen Jungen, den sie zu meinem Stolz ausdrücklich nach mir benannt hat.
Romeo und Julia auf dem Dorfe.