Er hieß Herr Kemmler und war Lehrer, Mathematiklehrer, genauer gesagt. Man wird älter, man wird schlauer, man verzeiht. Und trotzdem sitzen einem diese Pfähle des Hasses und der Verachtung im Fleisch, und können nicht wie faulende Zähne gezogen werden, weil sie dem Körper eingewachsen sind und mit ihm eine Einheit bilden, die zu zerteilen dem Organismus mehr schaden würde als die Fortexistenz des Eiterherds. Natürlich verlangt unsere Kultur Bereitschaft zur Vergebung. Jeder weiß, dass angestauter Hass mehr dem Hassenden als dem Hassobjekt schadet, aber was ist mir der Pflicht, einen Hundesohn auch als solchen zu bezeichnen? Ich könnte Verständnis heucheln, ich könnte sentimental einlenken, ich könnte Vergebung und Vergessen vorschieben, um die Wahrheit zu verdecken, aber sie würde immer noch lauten: Kemmler war ein Hundesohn.
Es ist mir auch gleichgültig, welchen seiner Mängel Herr Kemmler durch sein Verhalten mir gegenüber verdecken wollte, es ist mir gleichzeitig unbekannt und egal, welchen Schmerz er beschwichtigte, indem er mir Angst einjagte. Nicht einmal sein einziger Verdienst, dass er mich durch seinen Terror so weit brachte, gegen ihn aufzubegehren, nicht einmal dies stimmt mich um. Er war nicht nur ein schlechter Lehrer, gute Lehrer sind selten. Es ist schwierig, ein guter Lehrer zu sein. Kemmler war ein schlechter Mensch, und das mit der Leichtigkeit, die den geborenen Sadisten auszeichnet. Obwohl zwei Meter groß, musste er sein Selbstbewusstsein auspolstern, indem er mich unterdrückte. Wohl wissend, dass ich sowohl der Kleinste, als auch der Jüngste in meiner Klasse war, fand er eine idiotische Genugtuung darin, meinen Namen nur im Diminuitiv zu benutzen, und ich weiß nicht, wo ich eines Tages den Mut hernahm, ihn darauf hinzuweisen, dass das unstatthaft war. Zwar unterließ er diese billige Form der Apartheid danach, aber er rächte sich auf die feige Art der Herrschenden.
Der beschränkte Herr Kemmler, der mir mit seinem Terror eine Lernbehinderung verschafft hatte, durchschwitzte Nächte und verweinte Nachmittage, bediente sich meiner von ihm erzeugten Arithmastenie ganz nach Belieben. Nachdem ich nun einmal aufbegehrt hatte, um die Minimalforderungen des gewöhnlichen Anstands durchzusetzen, war ich sein liebstes Opfer. Wie konnte der Kemmler abfragen! Kleine Unsicherheiten, ein Stottern, ein Stolpern, die kleinsten Stockungen reichten bei ihm zum Punktabzug, und die Verachtung, die er dem Prüfling bei größeren Mißgeschicken entgegenschleudern konnte, war sagenhaft. Kemmler sagte nicht viel, um uns und vor allem mich zu terrorisieren. Er stand einfach leicht vorgebeugt da und zog seine Augenbrauen hoch, wenn ihm etwas mißfiel, das reichte dann schon. Wenn wir uns von der Tafel abwandten, weil wir nicht weiter wussten, die kühle Kreide in der schwitzigen Hand, gegen das Erröten ankämpfend, dann brauchte Kemmler nur zu seufzen, und zu sagen: „Ach, mach dir das Leben doch nicht so schwer“, und wir wussten, wir hatten versagt.
Kemmler machte uns das Leben schwer, und lastete uns dafür die Verantwortung an, waren wir es doch, die seinen Ansprüchen an mathematische Eleganz nicht genügen konnten. Fehlerfreiheit war ungenügend. Angelerntes Wissen unterschied er unbarmherzig von tief begriffenem. Sauber war ihm nicht recht, porentief rein musste die Lösung sein. Er ging bisweilen nach einer Mathematik-Doppelstunde aus der Tür, und sagte bis "Bis nachher", und wir wussten, daß sich das Spiel in Physik wiederholen würde. Wem er in dem einen Fach das Leben schwer machte, der hatte in dem anderen keine Aussicht auf Erfolg.
Herr Kemmler war sich seiner Macht bewußt und nutzte sie, und dieses niedere, primitive Bewusstsein der Macht drückte sich in dem sarkastischen Grinsen aus, das in seinem Gesicht wie festgefroren schien. Er strafte psychologisch. Die Schläge, die er nicht zu verteilen brauchte, hallten im Zuklappen des Klassenbuchs nach, in dem er unsere läppischen Verfehlungen eintrug. Natürlich leistete er sich hin und wieder cholerische Ausbrüche, die dazu dienten, seinen sonstigen Strafen ein wenig mehr Leben einzuhauchen, und die verhinderten, dass wir auf die Idee kamen, seine Peitsche sei nur aus Papier. Aber selbst in diesen Ausbrüchen war er beherrscht, kontrolliert, effizient, nicht etwa wie Hofstätter, der sich selbst durch seine Unmäßigkeit Lügen strafte, und Tafelkreide und Tafellappen in der Gegend herumschleuderte, oder Edinger, der immer spuckte, wenn er schrie, und sich dadurch lächerlich machte. Kemmler tobte mit Methode.
Gegen Ende der zwei oder drei Jahre, die ich ihm ausgesetzt war, war er mir so verhasst, dass ich beim bloßen Gedanken an ihn einen schlechten Geschmack im Mund hatte. Wenn der windschiefe Haken seiner Gestalt um die Ecke bog, wenn ich seine ungepflegte, scheinintellektuelle Frisur sah, das immergleiche hellblaue Billighemd, die immergleiche graue Flanellhose und die abgenutzte Ledertasche, in der er die mit unnachgiebiger Härte korrigierten Klassenarbeiten mit sich führte, wollte ich nur noch eines: Abstand. Ich wollte Menschen oder Einsamkeit, aber nicht die Gesellschaft von einem Resthominiden wie Kemmler, der in einem langen und geduldigen Prozeß jedes Quant seiner Triebenergie zu dem glühend heißen und dennoch kontrollierten Plasma der inquisitorischen Niedertracht umgeschmolzen hatte. Nachdem ich I. gefunden hatte, wollte ich, mit Kemmler konfrontiert, nur noch sie, weil sie das Gegenteil von ihm war.
Einmal, als ich nach Hause ging, kam mir Herr Kemmler auf dem Weg zur Bahnstation entgegen, ich erkannte ihn von weitem. Das blaue Hemd und die graue Hose und der typische, leicht stelzende Gang verrieten ihn schon auf große Entfernung. Was tun? Er kam mir ja direkt entgegen. Ich wollte ihn nicht grüßen. Ich wollte ihm einen Bruchteil der Verachtung zeigen, die ich für ihn empfand. Ich hatte Angst vor ihm. Als ich sicher war, dass er mich erkannt hatte, wechselte ich demonstrativ die Straßenseite, ohne ihn gegrüßt zu haben. Das Herz schlug mir im Hals. Wir waren auf gleicher Höhe. Er hielt kurz an, die dumme schwarze Tasche in der Hand, und fragte: "Hast du etwa Angst vor mir?" Und weil ich nicht ein noch aus wußte, und beim besten Willen nicht mehr so tun konnte, als habe ich ihn übersehen, sagte ich einfach: "Ja." Ich ging zwar schnell weiter, aber sein verächtliches Schnauben hörte ich doch, und als ich mich zwanzig Meter weiter umdrehte, um der schwarzen Tasche hinterherzusehen, die da hinten um die Ecke getragen wurde, wünschte ich Herrn Kemmler, er möge bei lebendigem Leibe verfaulen.
Dass ich unter der Knute dieses sadistischen Trottels weder einen Zugang zur Mathematik noch zur Physik fand, versteht sich von selbst. Ich kann mir noch heute Fachwissen aus diesem Bereich nur schwer aneignen, und wenn ich es getan habe, zerrinnt es mir unter den Fingern wie Sand. Mein Gedächtnis ist gegen Mathematik allergisch, weil es gegen die Kemmlers dieser Welt allergisch ist.
Herr Kemmler schied dann später aus dem aktiven Lehrdienst aus. Er rückte in die Lehrbuchkommission des Kultusministeriums auf, wo er über die mathematischen Lehrbücher wachte, mit denen andere sein Werk fortsetzten. Diese impotente Verwirklichung seines Wunschs, selbst einmal das einzig gültige mathematische Lehrbuch für das Gymnasium zu schreiben, scheint mir angemessen. Er war ein Hundesohn.
Ja, die Schule. Und ganz besonderen Spaß macht sie zwischen Mitschülern, denen sowas a vergleichsweise wenig ausmacht und die b selber schon nicht unähnlich drauf sind. Solches Kaliber blieb mir allerdings weitgehend erspart (oder ich hab's erfolgreich verdrängt; meine Erinnerung an dreizehn Jahre Schule ist schon nicht mehr sehr deutlich).
Eine mich mehrere Jahre begleitende Mathelehrerin war ähnlich sadistisch veranlangt. In ihren Stunden saß stets fast die gesamte Klasse wie versteinert in den Bänken; es war schauerlich, und sie betrachtete uns gerne minutenlang schweigend mit schiefem Grinsen, bevor sie mit dem Unterricht begann.
Nur einer, ein einziger, beherrschte das Fach, und grinste sie gerne herausfordernd an. Bald fragte sie ihn nicht mehr direkt, sondern leitete nur noch jene Fragen an ihn weiter, die MitschülerInnen nicht beantworten konnten. Unglaublich, wie sie Haß zu schüren verstand, diese Irre.
Später hatte ich einen, der ähnlich wie dieser Kemmler immer in den gleichen Klamotten herumlief. Er war nur ein wenig weniger irre als seine verrückte Vorgängerin. Immerhin, einmal liess er sich dazu hinreissen, uns, die Klasse, wegen irgendeinem Blödsinn "elende Kadaver" zu nennen. Ich verstehe nicht, wieso wir ihn dafür nicht umgehend vermöbelt haben...
Ich hatte einige sehr gute Lehrer und viele mittelmäßige. Ich kenne genug Lehrer, um zu wissen, was der Job verlangt, es ist oft mehr, als man sinnvoller Weise verlangen kann. Aber zu dem da kann ich immer noch nur denken: Die Sau, die dumme.
So ähnlich ging es mir lange Zeit mit einem Zahnarzt, der dem Punk zig gesunde Zähne ziehen wollte und mich nach der ersten Sitzung mit Bruchstücken im Kiefer nach Hause gehen liess, die ich dann - wieder sehr abgeschreckt von Zahnärzten - eine Zeit mit mir herumtrug. An 2. Stelle steht der Sadist, der mir locker ohne Betäubung auf den Nerv drückte und mich dann zur Apotheke schickte für diese ganz starken Tabletten (weiss und blau, fur Tag und Nacht), die ich dann verzweifelt in der Strassenbahn ohne ein Schluck Wasser herunterwürgte. Ich war 15 oder 16. Wenn ich mich später daran erinnerte und einen begegnet wäre, ich weiss nicht, was ich getan hätte.
Mein Bruder und ich hatten auf der Hauptschule einen Mathelehrer, der war bekannt dafür, manchmal den Schülern auffem Schulhof in den Magen zu boxen. Aber das ist gegen Kemmlers Psychoterror geradezu fassbar, bescheiden, verarbeitbar.
Merkwürdig, dass in Deutschland speziell die (Schul)-Mathematik so gehasst wird; die Schüler kommen schon mit der eingeimpften Furcht ihrer Eltern in die erste Klasse. In Frankreich etwa scheinen sich die Abneigungen der Schüler gleichmäßiger über alle Fächer zu verteilen. Kaputte, machtgeile Typen gibt es überall, leider können sie selten so viel Übles anrichten wie im Lehrerberuf. Ich erinnere mich auch noch gut an die graue lähmende Furcht, die ich die ersten Jahre jeden Morgen auf dem Weg zum Gymnasium hatte...
Ich hab nicht die geringste Ahnung, wie das in anderen Ländern aussieht, aber nach meinem Eindruck ist es hierzulande ja geradzu eine Tradition, dass vor allem in den Fächern Mathematik, Physik und Chemie soziopathische, technikvernarrte Studenten aufs Lehramtsstudium umschwenken, nur weil sie irgendwann feststellen müssen, dass sie den höheren Anforderungen des "normalen" Diplomstudiengangs nicht gewachsen sind. Zu Soziopathie und Fachidiotie, zur Abwesenheit einer Befähigung zum Umgang mit Menschen, geschweige denn mit Kindern, oder überhaupt nur eines Willens dazu, kommen damit dann auch noch ganz gerne lebenslange Frustrationen und tiefsitzende Minderwertigkeitskomplexe angesichts des eigenen Versagens, dass man es nicht in die akademische Forschung, in die Industrie oder wohin auch immer geschafft hat, hinzu. Der schlechte Ruf der Schulmathematik kommt daher, denke ich, weder von ungefähr, noch existiert er irgendwie zu Unrecht...