So wie die großen Reisen kleinere enthalten, können kleine Reisen größere bedingen. Ein Beispiel. Ich sehe mich in San Francisco die Lower Haight Street hinaufsteigen, auf einem Fahrrad, das mir mein amerikanischer Freund P. geliehen hatte, ein silbernes Mountain-Bike, das in diesem Fall seinen Namen auch voll verdiente, denn die Lower Haight Street, die von der Market Street in einem gigantischen Ziggurat zur Haight Street hochsteigt, ist sehr steil. Überhaupt sind Mountain-Bikes ja ideal für die Stadt geeignet,während sie in den Bergen die Landschaft zerfräsen. So irrt sich der Mensch. Und es ist wegen des Gefälles der Lower Haight Street und ihres zigguratartigen Ansteigens auch gar nicht möglich, einen Radfahrer in einem Stück den Berg hochradeln zu sehen, also ist meine Erinnerung gefälscht. Wie das meiste, was ich über die USA in meinem Kopf zu Erinnerungen zusammengebraut habe. Das Geld für meine erste Amerikareise verdiente ich mir mit Schokolade, genauer gesagt, in einer Schokoladenfabrik, in der ich vier Wochen lang kleine quadratische Tafeln in Pappaufsteller verpackte, die den Kunden im Supermarkt zum Spontankauf anregen sollten, und dies nicht nur zur Weihnachts- oder Sommerzeit, sondern immer. Ich fuhr morgens mit H. hin und abends mit ihm zurück. Wenn ich um 5.30 Uhr morgens an der Straßenkreuzung auf ihn wartete, sah ich in den Sternenhimmel eines verarbeiteten Septembers. Die Schokolade war quadratisch, praktisch und gut, und man konnte während der Arbeit soviel davon essen, wie man wollte. Ich unterbrach einmal den ganzen Produktionsprozeß der Sorte Joghurt, indem ich mir einfach eine Tafel vom Band griff, die Sicherheitslichtschranken hielten das Band an und ich stand mit hochrotem Kopf im Gelächter der Jugoslawinnen. An den Wänden der Fabrik hingen nackte Frauen, süß wie Schokolade. Am zweiten Arbeitstag verdonnerten sie mich zum Ausspülen der Formen, in die die heiße Schokolade zum Erkalten gegossen wurde. Während ich mit einem Hochdruckschlauch den Scheiß herauszuspritzen versuchte, setzte ich meine ganze Umgebung unter Wasser. Einer der Jugoslawinnen, die gallig anmerkte, sie habe schon geduscht, antwortete ich verzweifelt: Ich auch. Danach durfte ich wieder Schokoladenpyramiden stapeln, und mit einem unzerreißbaren schwarzen Plastikband sauber einwickeln. Es war auch sonst ganz lustig. Zum Beispiel betätigte ich mich als Revolutionär. Ein Arbeitnehmer, den ich in der Kantine fragte, wann hier zuletzt gestreikt worden war, sah mich an, als sei ich vom Mars. Als einer der Betriebsangehörigen, der seinen Umkleidespind in der gleichen Reihe wie wir stehen hatte, mit einer SA-ähnlichen Uniform zur Arbeit erschien, machten wir ein Flugblatt, das wir die Genossen am Fabriktor verteilen ließen. Der Mann wurde gefeuert, und einen Tag später standen drei seiner kahlköpfigen Freunde unentschlossen auf dem Parkplatz herum, fanden sich selbst aber dann doch ein wenig zu jung für eine Auseinandersetzung. H. und ich trafen uns zu etwas ausgedehnteren Arbeitspausen, um die neuesten Rezepte im Umgang mit der Müdigkeit auszutauschen. H. zog größere Vorteile aus seinem Job, denn er packte die Schokolade pfundweise in seine Tasche und fütterte damit die Genossen, ich genehmigte mir nur hier und da eine Tafel, weil mir Schokolade auf die Dauer zu langweilig wurde. Ich konnte das Zeug schnell schon nicht mehr sehen,und benutzte es nur noch als Aufputschmitel, um mich am Band senkrecht zu halten. Ein Kaffee aus dem Plastikbecher und zwei Riegel der Sorte Marzipan brachten nach der Mittagspause den nötigen Kohlenhydrat- und Koffeinschub bis zum Ende der Frühschicht. Diese Form des Dopings am Arbeitsplatz war gern gesehen, denn sie verhinderte zu häufige Gänge zum Getränkeautomaten. Einmal hatte ich einen Schwächeanfall und kippte fast am Band um. Die Betriebskrankenschwester nahm mir den Blutdruck, und sagte, ich hätte nicht genug Flüssigkeit zu mir genommen. Sie bat mit sauertöpfischer Miene darum, dass das nicht noch einmal vorkomme. Dann gab sie mir den Passierschein, den ich an der Pforte vorzeigen mußte, um das Betriebsgelände verlassen zu dürfen. So ging es hin. Ich trug die verordnete Arbeitskleidung mit einer gewissen Würde und in den Sicherheitsschuhen habe ich mit Sicherheit Fußpilz für Generationen von Jobbern hinterlassen. Ich jonglierte in manchen Arbeitspausen auf dem Innenhof, und deswegen und wegen meiner langen Haare wurde ich ausgelacht. Eine der Arbeitnehmerinnen fand ich süß. Sie hatte schwarze Haare und blaue Augen, und sie saß mir manchmal am Arbeitstisch gegenüber. Wir haben kein Wort gewechselt. So lernte ich den Kapitalismus kennen, und fuhr von dem Geld nach Amerika.
divisadero
wär ich lieber gefahren als lower haight
toll. thx a lot.
[ja, ich weiß schon, wie unangemessen es ist, auf texte mit eigenen memoirs zu reagieren. beim lesen aber gedacht, dass ich die ziggurat-straße mit einem link ausstatten könnte, der zu einem [nicht geschriebenen] text von mir kommen könnte, über ziggurat straßen in san francisco, zu fuß hoch, am ende in einem haus sitzend, in dem der freund eines berühmten schriftstellers davon erzählt, wie er alle paar monate in die nahe klinik eingeliefert wird und mit chemie abgefüllt wird, um das immunsystem doch noch einmal anzuwerfen, um doch noch weiterleben zu können. dann gedacht, was für kollektivtexte es würden, wenn schreiber auf einzelne wörter in den texten anderer reagierten, links von wörtern zu anderer leute geschichten flössen, wortabgründe, in die man gestoßen würde. war aber nicht so wichtig. der fabrikstext ist sehr toll, wollte ich durchsagen ]
Vielen Dank! Bei deinen biographischen Sachen schreibe ich ja gar nichts mehr hin, weil zu oft nur "danke" und "me too!" schreiben könnte; es ist oft auch eine hilflose Erregung, ein Schnappen nach Luft, weil mich deine Texte auf eine höchst seltsame Art beschämen, eine Nähe der Erfahrung, die ich manchmal gar nicht so gut aushalten kann. Die Irlandgeschichte zum Beispiel, was du als "Versteinerungsblicke" beschreibst, ich denke: Wie kann er das nur so einfach hinschreiben? Und natürlich: 1994, ab Killarney, einmal mit M. um die Insel, und wie versteinert und versteinernd ich war. Teuflisch, diese Weblogs.
ich bin noch unzufrieden damit, es stimmt noch nicht, ist erst auf halbem weg, ohne dass ich schon wüsste, was es genau ist, das da noch hakt. das wiedererkennen hat wahrscheinlich damit zu tun, dass das alles auf etwas hinkonstruiert ist, wie bei Deinen texten ja auch. das autobiografische ist eh nur das material, mit dem man dann kalküle anstellt. die idee, die ich gerade halbwegs habe und beim schreiben untersuche, ist, in so auto/biografischen geschichten kleineren, fast somatischen links (also zum beispiel einem blick, mit dem man jemanden angesehen hat) hinterherzugehen und sie mit wörtern zu füllen, mit einer recht erbarmungslosen haltung (sozusagen sich bzw.das erzähl-ich nicht davonkommen lassen). paul theroux, dessen texte ich eigentlich nicht besonders mag, weil er so ein formula writer ist, hat zwei autobiografie-bücher geschrieben, deren idee unfassbar großartig ist: an schnittstellen seines lebens die abzweigungen als wirklich stattgefunden zu beschreiben, die er tatsächlich dann eben nicht genommen hat. [darum mussten es zwei bücher sein: das eine brauchte man, damit man wusste, was "wirklich" geschehen ist]. sehr seltsam, das. die geschichte über die beziehung mit einer frau schreiben, die man in real life dann eben doch nicht hatte usw. seitdem interessiert mich, was man diesen erinnerungs-maskeraden anfangen kann.
Das Hinkonstruierte muss ich ertragen, sonst kann ich nicht erzählen, ganz ähnlich wie bei dieser quälenden Sache, dass sich Alltagsberichte an Freunde, Geliebte, Kinder nach dem dritten Mal zu einer Formel verfestigen, gerinnen, dass man dem aber nicht ausweichen kann, wenn man ehrlich darüber Auskunft geben will, was einem auf der Seele liegt, ich erlebe das als unumgänglich. Ganz ähnlich bei jeder Art von Schreiben, ich kann nicht nicht konstruieren (Benjamin, Totenmaske etc. etc.) Verrückt, dass das doch nur durch die Hoffnung zu rechtfertigen ist, einige wenige Male das Abgewandte des Augenblicks zu berühren, wo die Sprache eigentlich gar nicht hin kann. Die Verzweigung - ich habe neulich an I. geschrieben:
Ich habe gerade nachgesehen: Mein letzter Brief an dich stammt vom 28.9.1998. Sechs Jahre her. Wenn ich dieses Datum sehe und mir vor Augen halte, dass wir uns vielleicht alle fünf Jahre einmal sehen, werde ich von einer großen Wehmut überschwemmt – die Vorstellung, dass deine Tochter erwachsen ist, wenn wir uns das nächste Mal sehen, macht mich richtig kopfscheu. (...) Ich glaube dies: Bei allem Wissen darum, dass alles gut ist, wie es ist, gibt es in mir ein tiefes Bedauern darum, dass wir nicht Mann und Frau geworden sind. Diese Aussage ist offensichtlich absurd, und sie wird in ein ganz komisches Licht gestellt, wenn ich sage, dass ich manchmal daran verzweifle, mein Leben nur mit einer Frau teilen zu können – als bräuchte der Herr Hammerschmitt einen Harem, damit er sich wohl fühlt. Es geht aber um etwas anderes. Um diese seltsame Qualität des „Was wäre, wenn?“ Die Vorstellung, dass wir geheiratet hätten, Kinder bekommen hätten, zusammenleben würden, ist mir auf eine unheimliche Art leicht und natürlich, als gäbe es wirklich ein Paralleluniversum, in dem das so geschehen wäre, und als könne man sich das durch hauchfeines Reispapier hindurch wie ein Theaterstück ansehen. Ich ahne sogar die ganz und gar nicht komischen Schmerzen, die das mit sich gebracht hätte, bizarrer noch - ich kann sie fast spüren. So wie ich gemacht bin, so wie ich vermute, dass du gemacht bist (denn ich kenne dich eigentlich gar nicht mehr – und dann wieder so sehr doch!) – wir hätten harte Nüsse zu knacken gehabt. Und dennoch, das ist mein Schmerz heute morgen: Du fehlst mir als die Frau, die du nie für mich warst. Eine ungelebte Möglichkeit, deren Entfaltung ein anderes Leben hervorgebracht hätte, in vielem vermutlich meinem jetzigen relativ ähnlich, in anderer Hinsicht völlig anders. Ich hoffe, ich fasele nicht.
Kommentar zum Kommentar von Herrn Praschl, ist hoffentlich nicht unhöflich, werter Herr MH. Aber zum Text von MH: ich glaube, das "relativ ähnliche" wäre viel entscheidender als das "völlig andere".
Die Kalküle, die Deutung der Erinnerung, also die Autobiographie am Detail und anhand von Details ist ein wunderbarer metonymischer Prozess. Und im Zeitalter der Bilderflut ist es ein Akt von angemessener Vorsicht, sich mit den Details zufriedenzugeben, also im unbeachteten das Ganze zu entdecken. Das Spiel mit der ungelebten Alternative wäre als Publikumsquiz spannend: erkennen wir den Helden wieder, wenn er die anderen Kinder kriegt? Hätte etwas ihn so verändern können, das er ein ganz anderer wird, oder ist etwas in uns eingeschrieben, das wir nicht loswerden, egal mit welchen Männern...Also was ich eigentlich sagen wollte: es hat sich nicht wie eine Maskerade angefühlt in Ihrem Irlandtext. Die „Versteinerung“ in Ihrem Text ist wiedererkennbar und vertraut und kommt so als somatischer Wahrheitszipfel rüber, und es sagt viel über Sie aus, dass von dieser Irlandgeschichte diese Erinnerung übrig bleibt und keine dämliche erster-Sex-Schmonzette. Oder, andersherum, dass Sie das Besondere eines Anfangs mithilfe so einer Geschichte erzählen möchten. Ob es so war? Oder ganz anders? Who cares. Es spricht erkennbar dieselbe Person.
Danke. Trifft sehr gut, was ich praschl eigentlich auch noch hätte sagen wollen.
maskerade/nicht maskerade. ja sicher, ja schon. andererseits, in real life, ist das eine alberne 17jährigengeschichte gewesen, nichts weiter daran, mischmasch, man macht halt auch viel scheiss und mit 17 vor allem, wie soll man es auch besser wissen, usw. und dann schaut man, wo das hingeht, wenn man diesen ton dagegenjagt, die erinnerungsrhetorik, das schäbigkeitsbeschwören, all so was, und wo das hingeht, wenn man die alternativen so sehr liegen lässt, dass sie dem leser gar nicht mehr einfallen, und all so was. trick 17, trick 18, trick 19, man möcht sich selbst in den arm fallen dabei, aber dann würde man gar nicht mehr schreiben wahrscheinlich. jetzt bräuchte es, nach dem besonderen dieses anfangs eine fortsetzung, die den anfang wieder abbaut, denke ich, andere maskerade. weiß auch nicht so genau.
trick 17, trick 18, trick 19, man möcht sich selbst in den arm fallen dabei, aber dann würde man gar nicht mehr schreiben wahrscheinlich.
Für mich kann ich das bestätigen. Ich bin sehr gespannt auf dein Gegenkämmen. Heissenbüttels "D'Alemberts Ende" konnte ich dann wegen des dauernden Gegenkämmens nicht zu Ende lesen, da lagen und liegen mir die Schmerzen der unmöglichen Erinnerung von Uwe Johnson näher. Jetzt haben wir hier ein bisschen Romantheorie gemacht, gefällt mir.
Ja, das ist der Unterschied zwischen Autor und Publikum, oder nicht? Die notwendige Pathosforschung des Schreibenden. Deine Konzentration aufs Detail, die vielleicht im Gestus dem stark eingeschränkten Blick des albernen 17jährigen entspricht, obwohl sie völlig anderes wahrnimmt. Die Erleichterung der Lesenden, die ihre eigene Sentimentalität und den Umgang damit im schäbigkeitsbeschwören unbeschadet untergebracht sieht. Die alternativen sind das große Ganze, was natürlich nur mir als einer Leserin hilft.