Die Bahn. Die liebe Deutsche Bahn AG. Die ich manchmal mit allen Gleisen, Bahnhöfen und Service-Centern aus dem Boden rupfen und an mein Herz drücken möchte. Diesmal fing der Spaß ja schon am Fahrkartenschalter an. Aber das ganz große Bahn-Kino wartete noch auf mich.

Der ICE kam in Stuttgart zwanzig Minuten verspätet an. Die Verbindung nach Paris war also bereits gekappt, bevor ich einstieg. In Köln stellte man mir eine Verspätungsbescheinigung aus und schickte mich zum Reisezentrum. Dass ich wirklich in Schwierigkeiten war, merkte ich, als Frau S., die freundliche Reisezentrumsmitarbeiterin, mein Ticket zur Umbuchung entgegennahm, sich zu ihrer Kollegin hindrehte und sagte:

"Hast du so was schon mal gesehen?"

Die Kollegin hatte so was noch nie gesehen. Dann ging Frau S. nach hinten, das klären. An einem der Nachbarschalter bediente Johann Sebastian Bach, oder jedenfalls jemand, der ihm sehr glich. Hinter mir stauten sich die Reisenden.

Es erging der Bescheid durch Frau S.: Dieses Ticket ist ein unmögliches Ticket. Damit könne man die Teilstrecke zwischen Köln und Paris nicht befahren. Auch der Beförderungsvertrag für dieselbe Teilstrecke auf der Rückfahrt sei ungültig. Sie könne mir hier und jetzt nur ein gültiges Ticket für die Hinfahrt ausstellen, via Brüssel, meine Ankunft in Nantes verspäte sich dadurch nur um eine einzige Stunde. Für die Rückfahrt könne sie nichts machen, ich solle einfach mal mit dem ungültigen Ticket einsteigen, und darauf hoffen, dass der französische Schaffner auf dem Weg von Paris nach Köln "nicht so genau" sei.

Daraufhin ergab sich eine sportlich geführte Diskussion, in der viele Themen angeschnitten wurden. Zum Beispiel mein Unwille, gerade jetzt einen Abstecher nach Belgien zu machen, oder mit französischen Schaffnern über Gültigkeiten und Ungültigkeiten zu diskutieren. Wir erörterten auch die Kulanz der französischen Bahnpolizei bei Differenzen über Nachgebühren für bereits bezahlte Fahrscheine. An einem Punkt des Gesprächs musste ich mir verbitten, von Frau S. als "junger Mann" bezeichnet zu werden (sie war zehn Jahre jünger als ich). Bald danach kämpfte ich nur noch um kleine Dinge. Nein, sagte Frau S., eine Reservierung für den Zug nach Brüssel könne sie mir nicht geben, zu spät, er sei sicher nicht voll. "Verspätungsgutschein?", rief sie. "Na hören Sie mal, sie kriegen ja hier schon ein neues Ticket im Wert von 170 Euro!" Sie schien zu erwarten, dass ich mich für ihre Großzügigkeit bedankte. Ich sah auf die Uhr. Noch 15 Minuten bis zur Abfahrt nach Brüssel. Obwohl wir viel Spaß miteinander gehabt hatten, fiel meine Verabschiedung von Frau S. knapp aus.

Der Zug war nicht voll. In einer Gepäckbucht des Großraumwagens betete ein Moslem. Die bestickten Deckchen, die über dem östlichen Ende seines Gebetsteppichs lagen, erinnerten mich an die bestickten Deckchen meiner katholischen Großmutter. Dann stolperte eine junge Mutter mit zwei schlafenden Säuglingen im Arm herein. Ich floh.

Der nächste Sessel, den ich mir aussuchte, war kaputt. Er schwamm vor und zurück, wenn ich mich bewegte. Ich kultivierte einen finsteren Verdacht. Möglicherweise war das alles gar kein Zufall. Möglicherweise hatte die Deutsche Bahn AG mit belgischen Vertragspartnern gekungelt. Auf dass ein bestimmter Prozentsatz von Parisreisenden unfreiwillig durch Brüssel geschleust werde. Um den Bahnhof Bruxelles-Midi auch an Mittwochnachmittagen regsam und belebt erscheinen zu lassen. Und Frau S. war nur eine Agentin dieser Verschwörung. Johann Sebastian Bach hätte mir mehr Gerechtigkeit getan, dachte ich. An ruinierten belgischen Kleinstädten vorbei wackelte ich auf Brüssel zu.

Ab Brüssel aber lief alles rund. Ich kam nur mit einer einzigen Stunde Verspätung in Nantes an. Und war dann mitten im Festival. Traf den Verleger. Und den Kollegen. Und die Übersetzerin. Sah dann spät in der Nacht aus meinem Hotelfenster hinunter auf die main hall, mit ihren seltsamen Aufbauten und Apparaten, die sich drehten und drehten, für niemand. Jules Verne war seit einhundert Jahren tot. Ich schlief gut, Frau S. konnte mir nichts mehr anhaben.

Diesmal war es anders. Ich hatte einen Auftrag, denn ich war Teil der Film-Jury. Sechs Filme standen zur Auswahl, und wir sollten uns auf den besten einigen. Able Edwards klang gut, war aber peinlich. Den schönsten Titel hatte The Piano Tuner of Earthquakes, nur ist es nicht nützlich, wenn man Stoff für einen siebenminütigen Kurzfilm auf Spielfilmlänge dehnt. Das Stück enthält eine einzige interessante Szene, die mit Achselhöhlen zu tun hat. Der deutsche Hauptdarsteller erinnerte mich ständig an Bruno Ganz im Hitlerfilm. Ashura-jô no hitomi. Was lässt sich darüber sagen? Die Dämonen hatten grünes Blut, und die Samurai rotes. Von beidem gab es eine ganze Menge. Nicht völlig entgleist, die Sache, und Rie Miyazawa ist eine schöne Frau. Das Böse hingegen bevorzugt seltsame Frisuren. Mirrormask. Passable Story, gute Schauspieler. Gina McKee zum Beispiel mochte ich schon in Notting Hill. Die Effekte bei Mirrormask sind breathtaking, mais bien sûr. Aber der Film langweilte mich trotzdem, den anderen Juroren erging es genau so. Die Utopiales-Besucher gaben ihm den Publikumspreis. Kumo no mukô, yakusoku no basho - wirr, aber auch schön. Wie Hoshi no koe war er so gelenkig in der Darstellung von Einsamkeit, Abwesenheit und Melancholie, vor allem - er traute sich das auf eine Weise, die mir bei Animes sonst noch nicht begegnet ist (ich bin kein Experte). Aber dann - Perviyje na lune. Ich habe ja den Begriff "Mockumentary" erst neulich gelernt, er setzt sich wohl gerade für schöne falsche Geschichten dieser Art durch. Bei der abschließenden Jurysitzung brauchten wir genau fünf Minuten, um uns auf Perviyje na lune zu einigen. Ganz zum Schluss schaut der Astronaut einmal in die Überwachungskamera, die in seine Raumkapsel eingebaut ist, und dann kommt nur noch der Beweis, dass er es tatsächlich geschafft hat.

Ich diskutierte auch noch ein wenig mit anderen Autoren über SF und Politik. Es hörten erfreulich viele Festivalbesucher zu, und das Gespräch hielt sich erfreulich eng an sein Thema.

Und dann war der offizielle Teil der Veranstaltung vorbei. Und dann durfte ich noch für einen Tag ans Meer, nach La Baule, wo man im Sommer wahrscheinlich keinen Stehplatz mehr am Strand bekommt, und wo man im November einen Sonnenbrand bekommen kann, beim Vorbeispazieren an leeren Hotels und anderem Strandgut. Wieder ein solches Glück mit dem Wetter. Pferde, geschlossene Strandpolizeireviere, angeschwemmter Tang und Mütter, die ihre kleinen Kinder mit der Videokamera aufnehmen, und ich fotografiere sie dabei. Ich kann gar nicht sagen, wie froh mich das immer macht.

Auf dem Rückweg keine Probleme mit der französischen Bahn. Aber der ICE war in Stuttgart wieder zu spät, so dass ich die Süßigkeiten vergaß, die ich aus La Baule mitgebracht hatte. Ich schmecke sie noch jetzt, obwohl Fundstücke, die man essen kann, bei der Bahn sofort vernichtet werden.




















Fasziniert von den Neonreklamen französischer Apotheken. Ernsthaft.













"Laserschwert!", ruft Paul aus.











Wo der Kongress tanzt.










James Morrow und seine Frau Kathy. Sehr, sehr gute Leute.



















Sie sagte, ich solle das nicht fotografieren. Das Fenster sei zu schmutzig.



































die krakenshorts sind grossartig! und wo ist dieses merkwuerdige gebaeude mit der gebogenen front?


Gleich am Strand da. Drei riesige Anlagen in diesem Barbarella-Stil, man fasst es nicht.


Sehr schöner Bericht! Danke! Die Bilder aus dem Strandbad sind toll.


Freut mich, dass dir die Strecke gefällt.


schön


Aua

Tut mir immer wieder weh, wenn ich von unfähigen KollegInnen hören oder lesen muss.

Hauptsache, die Utopiales hat sich für Dich gelohnt und war inspirierend. Echt zum neidisch werden. Aber Neid ist ein schlechter Begleiter.


Man merkt ja zu oft, dass nicht deine KollegInnen verantwortlich sind, sondern das System. Beim Fahrkartenkauf war das offensichtlich: neue Software, unerfahrener Mitarbeiter, das konnte nur schief gehen. Dass dann ein völlig verbotenes Ticket herauskam, war auch nicht auf bösen Willen zurückzuführen - der Bahnbedienstete, der den Auszubildenden am Schalter einlernte, übernahm und wollte auf Biegen und Brechen das günstigste Angebot für die Reise finden. Dabei muss er wohl was übersehen haben. Aber diese Frau S. war wirklich eine Klasse für sich.