Platon [Der Staat]:

Können wir ihn [den Dichter, MH] also nicht jetzt mit vollem Recht angreifen und ihn als ein Seitenstück zu dem Maler aufstellen? Denn darin, daß er im Vergleich mit der Wahrheit Minderwertiges hervorbringt, wenn man auf die Wahrheit sieht, gleicht er ihm; und daß er sich an die entsprechenden Regungen in der Seele wendet und nicht an das Beste in ihr, auch darin sind sie einander ähnlich. Und so sind wir wohl schon gerechtfertigt, wenn wir ihn nicht aufnehmen in einen Staat, der eine untadelige Verfassung haben soll, weil er jene Regungen in der Seele weckt und nährt und, indem er sie stärkt, das vernünftige Denken zugrunde richtet. [Platon führt als Beispiele an: das Gejammer der Tragödien- und die Scherze der Komödiendichter, MH.] Wie wenn man in einem Staat die Schurken mächtig machen und ihnen die Regierung übergeben würde, die anständigen Leute aber verkommen ließe, ebenso bringt nach unserer Behauptung der nachahmende Dichter der Seele jedes Einzelnen eine schlechte Verfassung bei, indem er sich ihrem unvernünftigen Teil gefällig erweist, der nicht einmal zwischen groß und klein unterscheiden kann, sondern dasselbe bald für groß und bald für klein hält, und ihm Schattenbilder von Schattenbildern vorführt, von der Wahrheit aber ganz weit entfernt bleibt.

Platon, Hauptwerke, Ausgewählt und eingeleitet von Wilhelm Nestle, Alfred Kröner Verlag Stuttgart, 1973, S. 240 So weit Platons Ideen zum gesunden Volks-, Staats- und Verfassungsempfinden. Nun aber Adorno, der Platons Erfindung, die Dialektik, gegen den Altmeister in Anschlag bringt [Ästhetische Theorie]:

Die Werke sprechen wie Feen in Märchen: du willst das Unbedingte, es soll dir werden, doch unkenntlich. Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven Erkenntnis, aber dafür hat sie es nicht; die Erkenntnis, welche Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables. Kunstwerke sind, durch die Freiheit des Subjekts in ihnen, weniger subjektiv als die subjektive Erkenntnis. Mit untrüglichem Kompaß hat Kant sie jenem Teleologiebegriff unterstellt, dessen positiven Gebrauch er dem Verstand nicht konzedierte. Der Block indessen, der nach der Kantischen Doktrin den Menschen das An sich versperrt, prägt es in den Kunstwerken, ihrem einheimischen Reich, in dem es keine Differenz von An sich und Für uns mehr geben soll, zu Rätselfiguren: als Blockierte gerade sind Kunstwerke Bilder des Ansichseins. Am Ende lebt im Rätselcharakter, durch den Kunst dem fraglosen Dasein der Aktionsobjekte am schroffesten sich entgegensetzt, deren eigenes Rätsel fort. Kunst wird zum Rätsel, weil sie erscheint, als hätte sie gelöst, was am Dasein Rätsel ist, während am bloß Seienden das Rätsel vergessen ward durch seine eigene, überwältigende Verhärtung. Je dichter die Menschen, was anders ist als der subjektive Geist, mit dem kategorialen Netz übersponnen haben, desto gründlicher haben sie das Staunen über jenes andere sich abgewöhnt, mit steigender Vertrautheit ums Fremde sich betrogen. Kunst sucht, schwach, wie mit rasch ermüdender Gebärde, das wiedergutzumachen. A priori bringt sie die Menschen zum Staunen, so wie vor Zeiten Platon von der Philosophie verlangte, die sich für's Gegenteil entschied.

Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1973, S. 191






Re: Dichtung/Wahrheit, grobsortiert

Der DICHTERSTAAT! Kann man da mitmachen? Tut mans nicht schon? Stay fictitious, stay rebel!


Re: Re: Dichtung/Wahrheit, grobsortiert


Platon wähnte seinen Staat als bloß verfasstes Gemeinwesen der Gesellschaft natürlich sehr nah, ihm schwebte nicht unser Staat vor, der sich im Zeichen der vollentwickelten Bürokratie fast mit dem Staatsapparat (also dem geschriebenen und ungeschriebenen Regelwerk der Verfassungswirklichkeit + den uniformierten Ausführenden) gleichsetzen läßt. Was besser ist? Die bürokratische Hölle unserer Tage, oder der von Philosophenkönigen regierte, organisch gegliederte, "natürliche" Ständestaat Platons, den Faschisten auch so sinnvoll finden? - Man möge sich?s ausrechnen. Anyway: Zu Platons Staat nicht dazuzugehören, hätte für den Dichter mindestens den sozialen Verachtungstod, wenn nicht full blown exitus letalis zur Folge gehabt (Platon hatte auch nix gegen Eugenik). Am witzigsten an all dem: Platon war ein gescheiterter Tragödiendichter. Honni soit.