Berlin hin

Die hübsche Schweizerin in der Sitzgruppe gegenüber, schlank, große Augen, anscheinend gute Figur, und anscheinend auch ziemlich gelangweilt - bearbeitet die Nagelhaut ihrer Finger, trinkt, sinniert vor sich hin, verströmt gelangweilten Liebreiz. Eine Sitzgruppe weiter die unvermeidliche, extrem gut gelaunte Rentnertruppe, bei der extrem lautes und redundantes Geschwätz einfach zum guten Ton gehört. Immer große Dankbarkeit für meine Ohrstöpsel.

Da geht die Cellistin auf dem Bahnsteig entlang, die ich aus Irsee flüchtig kenne, die ich einmal dort angesprochen habe, weil ich ein wenig mit ihr flirten wollte. Sie errötete, als ich ihr meine Beobachtung mitteilte, dass sie während der Aufführung Trockenübungen machte: flüchtige Bewegungen über den Seiten hin, ohne sie zu berühren, ihre Hand eine musikalische Spinne.

Kurz hinter Kassel-Wilhelmshöhe die Bruchstücke eines TEE auf dem Abstellgleis, ausbleichende Knochen eines Sauriers.

Coca Cola hinter Hildesheim ist mit Natodraht abgesichert, weiträumig. Zuviel Leergut auf dem Gelände, und dann natürlich die Geschäftsgeheimnisse, vor allem die Mischung.

Norddeutschland vor Braunschweig: Kartoffeläcker in der Herbstsonne, kleine Kirchen, Zuckerfabriken, die all die Rüben schlucken, manchmal eine Allee.

In der U-Bahn zwei Jugendliche mit Bier. Sie kommentieren die Vorbereitungen zu der Demo gegen Sozialabbau, die man vom Zug aus sehen kann. Vor allem die Straßenabsperrungen haben es ihnen angetan:

Ey würd mich das nerven, wenn ich wegen so ein paar Pennern, die hier Demo machen wollen mit meinem Auto ... also würd mich das nerven!-

Als würd das was bringen, so ne Demo-

Sollnse doch einfach mal zu dem Typ rein in die Bude-

Kommste doch nicht rein, Mann!

Natürlich kommste rein! Hat die RAF doch auch geschafft!

Und sie steigen aus.

Berlin währenddessen

Bizarres Hotel, eine Premiere: kein Telefon, kein TV. TV kann man mieten. Zimmereinrichtung sehr karg, keine Hotelkunst, was von Vorteil wäre, käme nicht beim Weglassen der scheußlichen Fülle das noch scheußlichere Nichts zutage. Sofort der Gedanke: der ideale Raum für Heroin.

Beim ersten Mal sehe ich zuerst das Bild. Mit Kreide auf den Asphalt gemalt. Es heißt „Der Töricht und die Mädchen“. Man sieht ein Haus darauf und einen Weg, der Töricht ist möglicherweise mit den Mädchen weggegangen. Ein Mann in abgerissenen Klamotten, wahrscheinlich der Künstler, klimpert mit Geld in einer schwarzen Plastikschüssel. Er steht vor seinem Bild, mit dem Rücken zur Straße; wenn die Passanten nicht über sein Bild latschen wollen (niemand will das) müssen sie an seinem Rücken vorbei. Ich auch. Beim zweiten Mal, ich war gerade bei einem Vortrag über Rassismus in der SF, hält der Mann jedem Passanten seinen schwarzen Plastiktopf unter die Nase und sagt: „Eine kleine Spende, bitte!“ Als ich nichts gebe, wirft er mir ein hasserfülltes „Bastard!“ hinterher. Beim dritten Mal, ich habe gerade libanesisch gegessen, ist es schon dunkel. Das Bild ist nicht mehr da. An der Mauer, vor der es auf den Asphalt gemalt war, befindet sich ein Mahnmal. Es erinnert an den kommunistischen Widerstand im Nationalsozialismus und die Befreiung Berlins durch die rote Armee. Insgesamt fünf Tafeln aus Bronze. Ganz links außen die Abbildung eines Gebäudes mit Schornstein, es könnte ein KZ sein. Zweite Tafel: Eine Untergrunddruckerei. Ein Mann und eine Frau an der Presse, ein dritter hält Wacht am Fenster, damit man nicht von der Polizei überrascht wird. Die ersten drei Zeilen des Flugblatts sind auch in Bronze gegossen: „Berliner in den Kampf! Rettet Berlin! Rettet was zu retten ist! Nieder mit den Hitlerbanditen!" Auf der dritten Tafel steht in deutsch, englisch, französisch und russisch, dass man sich an die erinnern soll, die gestorben sind, damit wir leben können. Vierte und fünfte Tafel: Rotarmisten beim Befreien. Einmal helfen sie Verschütteten aus den Trümmern, einmal sind sie um ein Geschütz gekauert, dessen Rohr steil in den Himmel aufragt. Stelle mir gerade vor, ich hätte die alptraumhafte Aufgabe übernommen, einem Uruguayer zu erklären, was an diesem Mahnmal stimmt und was nicht. Immer unter der Voraussetzung, ich wüsste das so genau, wie ich manchmal glaube.

Im libanesischen Restaurant sofort der Neid auf die beiden verliebten Frauen. Ich muss sogar ein wenig lauschen. Die eine sagt zu der anderen: „Du toppst alles!“

Bei der Lesung hört man mir zu, auch Bov und Tristan sind gekommen, und das gibt mir einen Anker, der mich den Lärm in der Kneipe vergessen lässt, auch das eine oder andere anscheinend missgünstige oder gelangweilte Gesicht. Die Stadt zeigt sich ganz verwandelt durch ein wenig Sonnenschein. Mehr Freundlichkeit wagen! Aber nicht zu viel.

Berlin rück

Im Abteil. Eine Mutter in grünem Turnanzugsoberteil und Jeans, Spiegelleserin, trotzdem sympathisch. Ihre beiden lesebegeisterten Kinder (Junge - Sportseiten, vor allem Eishockey, Mädchen - Cornelia Funke). Dazu rechts von mir zwei Jungs um die zwanzig, der eine mit historischem Roman (Der Frevel des Clodius), der andere mit Zeitschrift (neon). Nicht, dass ich hier spionieren würde. Draußen schöner Herbst, Wolkenherden über der Landschaft, es wird alles gelb.

Die Eishockey-Zeitung des Jungen ist voller Poesie: "IceTigers vor Tor eiskalt, DEG stirbt in Schönheit." Rechts neben mir die "neon": "Wie fühlt sich das an, an einer Sexorgie teilzunehmen?" Dazu Bilder von nackten Menschen im Wald. Man braucht den Blick des Anthropologen.

Vorhin Angler am See und Windparks, ehemaliger Osten, noch sichtbar. Jetzt hier, hinter Braunschweig, immernochiger Westen und Windparks. Die Windparks stellen die Einheit Deutschlands her. Wind auch immer aus der gleichen Richtung.

Der Eishockey-Junge trägt alle Eishockeyergebnisse, von denen er durch seine Zeitung erfahren hat, von Hand in ein Rechenheft ein. Auch eine Form von Glück, wie ich weiß.

Nichts passiert, das ist gut. Die Kinder steigen aus, sie hatten mit der Spiegelleserin nichts zu tun, wie ich überrascht feststelle.

Als ich fast am Ziel bin, plötzlich Gewalt. Der ICE, aus dem ich gerade gestiegen bin will wieder anfahren, da öffnet sich zwanzig Meter vor mir eine Tür, ein Mann fällt heraus, wird herausgestoßen, ein zweiter folgt, die beiden fangen an, sich gegenseitig die Fresse zu polieren, aber im Ernst. Schaffner ratlos, neben mir springt eine Tür so heftig auf, dass sie mich an der linken Schulter trifft, Bahnsheriffs in wildem Galopp, sie sind in zwei Sekunden bei den Kämpfern, trennen sie, ich denke: Jetzt geht es richtig los. Aber keine Spur: die Kontrahenten sind sofort nüchtern, zwar fährt einer der Sheriffs noch seinen Teleskopschlagstock aus, aber es ist unnötig. Ich bewege mich langsam, wie in Trance an der Szene vorbei. Der Zug fährt an, die beiden Schläger wollen wieder einsteigen, aber die Sheriffs verwehren es ihnen, es folgt zivilisierter Protest: "Da ist mein Gepäck drin!" "Das ist doch unglaublich, nur weil sich der Kerl da nicht beherrschen kann!" Grund der Auseinandersetzung: Einer der beiden hatte an einem Ort geraucht, den der zweite für einen Nichtraucherbereich hielt. Mir ist nicht gut, zum Glück findet auf dem Vorplatz des Bahnhofs eine Kirmes statt, wo ich zur Beruhigung ein wenig fotografieren kann.

















































Am Walter-Benjamin-Gedächtnis-Riesenrad.












Gut. Ich fühlte mich zum Ende hin, als wär ich dabei gewesen ;-)


Hohes Lob, danke!


Danke. Und wenn sie das nächste Mal in der Stadt sind und lesen, dann sagen Sie doch bitte einfach mal Bescheid.


Der nächste Termin steht schon fest: 14.11. (Sonntag), Ausland, Lychener Str. 60, 20.00 Uhr.


Oh, klasse. Da dürfte mir auch nichts dazwischenkommen (wie leider letztens).


Ich hatte Sie schon vermisst.


Ah, das wird gleich notiert. Diesmal saß ich in der ersten Hälfte der Dritten Heimat. Dann aber im Ausland.


Scheint ja voll zu werden! Ich lese auch was Neues.