Homecoming, of a sort. Die Strecke vom Bahnhof zum Kongresszentrum steckt schon in den Füßen, denkt man, und wenn das Festival im nächsten Jahr an Fnanzierungsproblemen eingeht, können die Füße mit diesem Wissen so bald nichts mehr anfangen. Ich denke noch an den Jungen, mit dem ich von Köln nach Paris gefahren bin, 12 ist er gewesen, höchstens 13, und er las ein Buch (Daniel Pennac, Comme un roman), das zu seinem Alter nicht zu passen schien. Als meine Neugier zu groß wurde, gab er mir Bescheid: Nein, das sei nicht für die Schule. Es handele von den Rechten des Lesers. Zeigte mir das Backcover, das die Rechte des Lesers verzeichnete: zehn sind es genau. Vom Recht, ein Buch nicht zu lesen, bis zum Recht zu schweigen. Laut Daniel Pennac hat der Leser auch das Recht, auf "Bovarysme" - das heißt, sich von der Sprache eines Buchs anstecken zu lassen. [Oh, das habe ich wohl missverstanden]. Ich kam ins Grübeln. Metalektüre für Zwölfjährige? In dem Alter war ich gerade in meiner Kishonphase. Dann klappte dieses erstaunliche Kind da neben mir sein Buch zu, denn es war fertig. Wir sprachen ein wenig, und mein Hickhackfranzösisch beschämte mich. Er war die kultivierte Ruhe in Person. Kein Streber, kein Angeber, sondern einfach nur seinem Alter geistig acht Jahre voraus. Dachte im Stillen: Das ist sie wohl, die Hochbegabung '06. Konnte mich gerade noch zurückhalten, ihn zu fragen, wie alt er denn nun eigentlich sei. Die Frage hört der zu oft.

Großer Jubel auf dem Hotelzimmer: Da steht ein Wasserkocher, da stehen verschiedene Teesorten, da stehen Teetassen. Wie in England. Es gibt eine Vernunft in der Welt, es gibt einen Fortschritt.

Erstes Abendessen, gute Diskussion (Islamismus and such). Um den Tisch herum: Cory Doctorow, Brian W. Aldiss, James Morrow, Norman Spinrad. Ich merke: Cory Doctorow in einer politischen Diskussion zu widersprechen, ist keine leichte Aufgabe. Er weiß viel und vertritt seine Ansichten mit einem gewissen Überdruck (als ob ich Letzteres von mir nicht selbst kennen würde). Er glaubt, der Islamismus beruhe hauptsächlich auf der Anpassung opportunistischer Massen an machtkranke Ideologen & Zyniker. Ich halte dagegen, bei den Massen gebe es massenhaft Überzeugte. Norman Spinrad hat gerade, wie immer, ein Buch über das Thema geschrieben. Man trennt sich angeregt. Gutes Essen auch.

Brian Aldiss, mittlerweile 80, erzählt an der Hotelbar, wie es damals in Burma war. Da gab es zu viele Moskitos. Die englischen Soldaten bekamen eine Art Rauchgranaten zur Insektenbekämpfung: Wenn man damit das Zelt ausräucherte, fiel alles, was sechs Beine hatte, tot zu Boden ("we somehow liked the smell of it"). Weil es aber reines DDT war, hat er heute ein wenig Schwierigkeiten mit der Signalübertragung von seinem ZNS zu den Beinmuskeln. Sagt Brian, sagen seine Ärzte.

Ich sehe einen Film. Letztes Jahr habe ich so viele Filme gesehen, dieses Mal wird es bei diesem einen bleiben. Gibel sensatsii, sowjetische Umsetzung (1935) von Capeks RUR (1920). Grandiose Sache. Der durchgedrehte Ingenieur veranstaltet in einer Szene mit seinem Saxophon ein Roboterballett (seine Bots sind klanggesteuert). Zum Schluss nimmt die Arbeiterklasse die RURs in Besitz und erobert mit ihrer Hilfe das Hauptquartier der unterdrückerischen Bourgeoisie. Arbeiter & Robot Seit' an Seit'. Bajonette zum Sturm auf die Bastille, aber auch schon ein wenig der Angriff auf den Todesstern. Kein Scheiß.

Vorstellung meines Buchs. Drei andere Autoren (Lucius Shepard, Javier Negrete, Laurent Kloetzer) auf dem Podium, man bemüht sich bis zum Schluss um ein gemeinsames Thema, wie durch ein Wunder zerfällt nicht alles in viele kleine Schnipsel. Vielleicht siebzig Leute hören zu, im Hintergrund klackern die hysterischen Maschinen von Bil Vorn vor sich hin. Man liebt sie in Frankreich, diese "tables rondes". Danach Massenwidmungssitzung. Man muss sich innerlich ein wenig wappnen, wenn man dabei mitten unter Leuten sitzt, die ganz von Stapeln der eigenen Bücher eingemauert sind; sie werden aber vom gediegenen Interesse des Publikums aus dieser Zwangslage befreit. Rechts und links geht die Bewusstseinsware weg wie warme Semmeln. Ach doch, ich habe auch zu tun.

Abendessen mit Autoren und Übersetzern. Soziale Lepra ist, wenn du denkst, du bist ganz allein unter Leuten, sie sich alle kennen. Nicht einmal die Tischsitten hast du drauf. Man hätte näher beim Ausgang sitzen sollen, um leichter fliehen zu können. Um nicht an sozialer Lepra zu erkranken, verwickele ich mehrere Tischnachbarn und Tischnachbarinnen in Gespräche. Bei der australischen Autorin K.J. Bishop gelingt es erst, als ich Ishiguro und dann Pessoa erwähne. So nützt die Lektüre bei der Konversation mit Literaturmenschen.

Entdecke am Morgen einen neuen schönen Aspekt von Nantes: Das innerstädtische Kanalsystem der L'Erdre, das man bequem vom Hotel aus zu Fuß erreichen kann. Da bin ich vor einigen Jahren schon einmal geschippert, auf einem schwimmenden Restaurant. Damals war es romantisch, jetzt ist es nur schön. Städte mit weitläufig bewanderbaren Wassersystemen haben bei mir ja sowieso leichtes Spiel. Da gibt es eine "Ile de Versailles", mit einem Park, der gern japanisch wäre. Es fehlen aber Geld, Hingabe und andere japanische Tugenden, ich mag das leicht scheppse Ergebnis sehr.

Noch eine Widmungssitzung. Rechts neben mir der König der französischen Phantastikautoren. Sein Werk würde in Einzelbänden bereits ein stattliches Ikearegal überfordern, aber er ist erst Anfang Fünfzig und hat noch viel vor. Die Leute stehen Schlange bis zum Eingang der Festivalsbuchhandlung. Ich wappne und wappne mich innerlich. Auftritt das belgische Fernsehen. Ob ich der und der wäre. Ob mir die Pressestelle von dem geplanten Interview erzählt hätte. Wann ich denn dafür wohl Zeit hätte. Ich sage ja und nein und ich sage jetzt. Da setzt es sich hin, das belgische Fernsehen, und die Kamera läuft schon, und ich höre mich interessante Dinge zur Science Fiction in Deutschland sagen, unter bes. Berücksichtigung der Doppelung Deutschlands bis 1989 und nachher. Thank you very much, und die DVD kriege ich dann angeblich per Post; ich weiß nicht, ob ich das erhoffen oder befürchten soll.

Der Verleger hat ein Gespräch mit wichtigen Buchhändlern und Bibliothekaren arrangiert; ein Seminarraum im Kongresszentrum, zunächst Seminarstimmung, dann aber Décontraction, wir sind die Lockeren. Alle stellen sich vor, das soll ich dann auch tun. Da ich partout nicht Französisch sprechen will, fordert man Deutsch von mir, und A., die Verlagssekretärin, von Geburt Deutsche, soll übersetzen. An einem Punkt verbessere ich sie auf Französisch, alles lacht. Ich fange innerlich an zu schwitzen und denke: Yeah, Mann, yeah, reiß dich rein, mach dich bei A. schwer unbeliebt, glänz mit sprachlichen Partialleistungen, die mit deiner allgemeinen Kompetenz nichts zu tun haben. Aber ich habe ohne Absicht den richtigen Ton getroffen; dieser Deutsche da, der ist ja richtig drollig.

La Baule hält wieder Sonne bereit, es riecht dieses Jahr gar nicht nach Meer, Kitesurfen ist gerade groß in Mode an der französischen Atlantikküste. Wie ein Traum: Während die Kitesurfer schon im Wasser stehen und sich bereit machen für den nächsten Ritt, hängen ihre bunten Schirme über den Köpfen der Strandspaziergänger. Das ist übrigens eine rasante Sportart, kein Wunder, dass man dabei sterben kann. Ich verstecke Muscheln in meinem Rucksack, um sie in ein paar Monaten wieder aufzufinden. Diesmal bin ich gar nicht wehmütig. Warum mich der Haltepunkt La Baule les Pins immer so an meinen allerersten Bahnhof erinnert, die Dorfbutze, von der aus ich ins Gymnasium gefahren bin - ich weiß es nicht, es gibt keine Ähnlichkeiten.

Turkish Star Wars steht auf dem Programm, ich wage es. Vor der Aufführung bedankt sich ein Ankündiger bei der Festivalleitung, dass man "une telle merde" überhaupt hier zeigen darf. Zehn unbeschreibliche Minuten ertrage ich die merde, dann flüchte ich. Ed Wood hätte vor diesem Film gekniet.

Der TGV bringt mich weg, aber zunächst nur nach Paris. Dort treffe ich Bruno. Bruno hat das Festival seinerzeit gegründet. Wenn man mit einer Hand in einen Bottich voller europäischer Sprachen greifen würde, dann spräche Bruno sie alle. Er arbeitet bei der OECD, und dies natürgemäß auf der ganzen Welt. Familie hat er auch. Wenn ich einmal groß bin, werde ich soviel Energie haben wie er. Seine Frau Claire Duval hat zwei meiner Geschichten übersetzt [1 | 2], meinen Roman allerdings nicht, sie hat das Übersetzen vor einigen Jahren aufgegeben. Wir treffen uns im Palast des Maharadscha mit James Morrow und seiner Frau Kathy; Brunos Bruder Xavier (der das Cover zu Nanotikal gemacht hat) und seine Freundin Adriana sind dabei, Claire muss sonntags arbeiten, denn sie ist jetzt Kulturfunktionärin, und die Sitzungen französischer Kulturfunktionäre finden grundsätzlich am Sonntag in der Nacht statt. Ein Abend wie schöner Rauch in die Luft geblasen, wir essen und reden über alles, bis das Restaurant schließt. Ich gehe mit Bruno nach Hause, Claire kommt zurück, wir reden noch weiter über alles, zum Beispiel über Brunos Erfahrungen mit dem Saarland, denn dort unter anderem hat er Deutsch gelernt. Oh, kommt der Morgen früh. Bruno nimmt mich mit zur Défense, von dort aus mit dem RER zum Gare du Nord, von dort aus los. In Köln steht die Sonne bereits tief und erleuchtet die orangefarbenen Gebotstafeln im Bahnhof. In der kleinen Stadt, in der ich lebe, lande ich an, als es schon dunkel ist. Ich lasse meinen Rucksack auf mein Bett fallen und werde spontan auf angenehme Weise seekrank.




























Nach dem Krieg - wird das Stadion abgerissen.












Hysterische Maschine.



Wim Maryson, Schriftsteller.



How they taunt us.
































Heilige Mutter Gottes, befrei mich vom Christentum.











































































Jetzt hab ich einen Text gelesen, den ich wunderschön finde. Beiläufig eine so wichtige Reise erzählen, das kann nicht jeder. Es ist ein bißchen so, als ob man mit Max Frisch rumläuft.Jetzt hab ich nachgeschaut und festgestellt, dass dies ein richtiger Schriftsteller geschrieben hat, und jetzt trau ich mich nicht mehr,was zu sagen. Was ist, wenn er nicht gelobt werden will, einfach so, von mir? Nein, ich trau mich doch!


Danke schön, freut mich, dass es dir gefallen hat.


:-)