Ab dem 7.7. gibt es einen Literaturpfad in Tübingen, und einen Begleitband gibt es dazu. Mein Nachwort handelt vom Tübingen-Rhizom:

Tübingen und die Literatur, das ist eine alte Geschichte, meint man. Als ich 1985 meinen Verwandten erklärte, dass ich zum Studieren nach Tübingen gehen würde, da sagten sie gleich: „Ah, Tübingen. Da gibt es doch ein großes kulturelles Angebot.“ Mit dem „kulturellen Angebot“ meinten sie Schreiberlinge und andere Kunstspinner, sowie Philosophen, die sich über nutzlose Dinge nutzlose Gedanken machten. Dass ich Gedichte schrieb und ausgerechnet Philosophie studieren wollte, komplettierte das Bild. Meine Verwandten meinten es gut, wenn sie mich auf das möglicherweise reichhaltige Kulturangebot hinwiesen. „Geh mit Gott, aber geh“, dachten sie, „du wirst in Tübingen nicht allein sein“. Mir ging es also wie zahllosen anderen Studenten und Studentinnen vor und nach mir: Unerfahren wie wir waren, brachten wir alle unseren Hunger nach Kultur mit und trafen auf eine Universität und auf Friedrich Hölderlin, den Geist im gelben Turm am Neckar. Und vielleicht auf Hermann Hesse, da konnte man sich aber nicht so ganz sicher sein, denn er war nur kurz geblieben.

Dieser Zweieinhalbklang wird bis heute gerne gespielt, wenn von Tübingen die Rede ist. Universität, Hölderlin und vielleicht Hesse. Eine Kultur unter dem Herbstlaub der Tradition. Leises Rascheln im Abendwind.

Aber sicher gibt es doch noch andere Geschichten zu erzählen über Tübingen und die aktuellere Literatur, das wäre ansonsten ja wirklich zu traurig? Zumindest eine davon geht so.

In den Jahren 2000 bis 2015 entwickelte sich in Tübingen, nicht zufällig parallel zum Aufblühen des Internets, eine literarische Szene, die am besten mit dem damals ebenfalls populären Begriff „Rhizom“ zu beschreiben ist. Dafür gab es – neben dem Internet als neuem, digitalem Nervensystem der Welt – ein paar tübingenspezifische Gründe. Die Literatur hat in Tübingen keinen Ort, sondern viele Orte. Das Fehlen einer zentralen Lokalität, einer zentralen Autorität, eines verbindlichen Stilbegriffs bedingte die gleichgewichtige und gleich virulente Aktivität an vielen Orten gleichzeitig. Überall war Wärme im Humus unter dem Herbstlaub, und das zahlte sich aus. Das wäre aber nicht gegangen ohne das Vorhandensein von Talent. Tübingenspezifisch ist daran, dass das mythische, große kulturelle Angebot Tübingens die Handelnden anzog und anzieht, die es tatsächlich erstellen und wahr machen. Nichts gegen Ludwigsburg, Esslingen oder Villingen-Schwenningen, aber in diesen vergleichbar großen Städten ist das nicht so. Tübingen boxt nach oben, freilich manchmal recht unkoordiniert. Wenn ein Mythos seine eigene Realität gebiert, kann man das einen Zauber nennen oder einen Fluch, je nachdem. Ich habe auch eine deutsche Edelfeder in ähnlichem Zusammenhang schon einmal von der „Überproduktion des Guten“ reden hören, was mich wütend gemacht hat, weil es ein Korn Wahrheit enthält. Tübingen hat einen Überhang an Talent und Hoffnung, daher auch einen Überhang an Verbitterung und Enttäuschung; beides geht Hand in Hand (…)